Ein solches medienpolitisches Erdbeben hat es in Deutschland schon lange nicht mehr gegeben. Ausgerechnet der Kulturstaatsminister der Bundesregierung, Wolfram Weimer, steht im Verdacht, als ehemaliger Verleger und Eigentümer eines Medienkonzerns für massenhafte Urheberrechtsverletzungen verantwortlich zu sein. Das zu seiner Weimer Media Group gehörende Online-Magazin The European soll jahrelang ohne deren Zustimmung Reden, Interviews und Texte bekannter Politiker, Journalisten und Prominenter veröffentlicht und diese teilweise als Autoren des Papiers identifiziert haben.
Die Liste der angeblichen Publizisten liest sich wie ein politisches und gesellschaftliches Who-is-Who: Bundeskanzler Friedrich Merz, Innenminister Alexander Dobrindt, Wirtschaftsminister Robert Habeck, Außenministerin Annalena Baerbock, Gregor Gysi, Sahra Wagenknecht, Papst Franziskus, Brad Pitt und AfD-Chefin Alice Weidel, die fast hundert angebliche Beiträge für das Magazin geleistet haben soll.
Was zunächst wie eine Randnotiz schien, entwickelte sich innerhalb weniger Tage zu einer Angelegenheit von politischer Bedeutung. Wolfram Weimer ist nicht mehr nur Medienunternehmer, sondern auch Kulturstaatsminister im Kanzleramt und damit zuständig für Pressefreiheit, Medienethik und Urheberrecht.
Die Entdeckung: „Weidel wurde nie um Erlaubnis gefragt“
Aufgedeckt wurde der Fall vom Publizisten Alexander Wallasch. Auf seinem Blog veröffentlichte er zunächst eine Reihe von Screenshots, die Dutzende Beiträge zeigten, in denen AfD-Chefin Alice Weidel als Autorin identifiziert wurde – Texte, die sich bei näherer Betrachtung als Reden, Pressemitteilungen und Interviews der Politikerin entpuppten. Einige davon wurden wörtlich kopiert, andere nur leicht umformatiert. Insgesamt, so Wallasch, habe die Zeitschrift fast hundert solcher Artikel unter Weidels Namen veröffentlicht.
Weidel beauftragte daraufhin einen Medienanwalt mit der Prüfung des Falles. „Frau Weidel war weder Autorin für The European noch wurde sie um Erlaubnis gebeten, dort Texte unter ihrem Namen zu veröffentlichen“, sagte ihr Sprecher Daniel Tapp gegenüber t-online. „Es ist ein sehr unehrlicher Ansatz, sich geistiges Eigentum auf diese Weise anzueignen“, heißt es weiter. Auch andere vermeintliche Autoren reagierten überrascht. Nach Angaben des Innenministeriums hat Alexander Dobrindt nie für das Magazin geschrieben und keine Bezahlung erhalten.
Auch der österreichische Kommunikationswissenschaftler und selbsternannte Plagiatsjäger Stefan Weber fand sich überraschend auf der Autorenliste des Magazins wieder; mit elf Texten, die angeblich direkt seinem Blog entnommen wurden. „Ich war sehr überrascht“, sagt Weber im Interview mit Alexander Wallasch. „Jemand hat es einfach kopiert und übergeklebt. Ich wurde nie gefragt, nie bezahlt.“ Für ihn ist der Fall klar: „Das ist eine klassische Urheberrechtsverletzung.“
Weber, der sich seit Jahren mit wissenschaftlichen und journalistischen Plagiaten befasst, schließt nicht aus, dass die Inhalte automatisiert gesammelt wurden. „Ich habe mir die Artikel angesehen, die kopiert wurden. Sie sind nicht einmal neu formatiert, was darauf hindeutet, dass sie direkt kopiert wurden. Ich hoffe, das war keine künstliche Intelligenz – das traue ich Herrn Weimer technisch gesehen nicht zu.“
Gute Kontakte: Kulturstaatsminister Wolfram Weimer (l.) begrüßt den italienischen Medienunternehmer Pier Silvio Berlusconi.dpa
Er hat nun einen Anwalt eingeschaltet. „Wir werden hier, soweit rechtlich möglich, Vollgas geben.“ Doch für Weber ist der Vorgang nicht nur ein Rechtsverstoß, sondern auch ein moralischer. „Wenn ein Politiker, der für Kultur und Medien zuständig ist, selbst Urheberrechte verletzt, untergräbt das das Vertrauen in die Institution, die genau diese Rechte schützen soll.“
Auch der politische Druck wächst. Götz Frömming, kulturpolitischer Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, forderte Weimers Rücktritt. „Wenn sich die Vorwürfe erhärten, wird Staatsminister Weimer ein ernstes Problem haben“, schreibt Frömming in einer Pressemitteilung. Der AfD-Politiker führte weiter aus, dass ein Bundesbeauftragter für Kultur und Medien eine Vorbildfunktion haben müsse, insbesondere im Bereich des Presse- und Urheberrechts.
Noch vor wenigen Tagen kritisierte Weimer „mentalen Vampirismus“
Frömming erinnerte daran, dass Weimer in seiner Rede auf der Frankfurter Buchmesse den „mentalen Vampirismus“ der künstlichen Intelligenz – das Abfangen fremder Inhalte – kritisiert hatte. „Und nun stellt sich heraus, dass er selbst hunderte Male Texte anderer Leute kopiert und sich mit deren Namen geschmückt hat“, sagt Frömming. „Man könnte wohl sagen, dass dies so ziemlich das Geschäftsmodell seines Magazins war.“ Sollte Weimer die Vorwürfe nicht schnell aufklären können, müsse er zurücktreten, sagte der Politiker.
Und was sagt Weimer selbst und welche Verbindung hat er zu The European? Wolfram Weimer ist in der deutschen Medienlandschaft kein Unbekannter. Der 59-Jährige war Chefredakteur von Welt, Focus und Cicero, bevor er 2012 mit seiner Frau Christiane Goetz-Weimer die Weimer Media Group gründete. Sie positionierte sich als Verlag für gehobenen politischen Journalismus, zu dem unter anderem Börse am Sonntag, Markt und Mittelstand und The European gehören.
Als ihn Friedrich Merz im Frühjahr 2025 zum Staatsminister für Kultur ernannte, galt Weimer im Umfeld der Kanzlerin als Intellektueller – als jemand, der die Union kulturell modernisieren und die Medienpolitik festigen sollte. Im April zog er sich aus der Leitung seines Unternehmens zurück und seine Frau führt den Verlag seitdem allein.
Seit Bekanntwerden der Vorwürfe wurden diese dementiert. Auf Antrag von Alexander Wallasch verwies das Kultusministerium die Angelegenheit an die Weimer Media Group, die wiederum erklärte, dass die redaktionelle Verantwortung allein bei den jeweiligen Chefredakteuren des Magazins liege. In einer schriftlichen Stellungnahme hieß es, dass politische Reden und Statements stets als „dokumentarische Veröffentlichungen“ auf der Plattform erschienen. Kostenlos und mit Quellenangabe. Sollte in Einzelfällen die Quelle vernachlässigt worden sein, bedauern wir dies.

Bundeskanzler Friedrich Merz CDU und Wolfram Weimerwww.imago-images.de
Gleichzeitig betonte die Verlagsgruppe, dass beim Relaunch der Seite im Jahr 2021 viele ältere Inhalte gelöscht worden seien. Die Praxis, Reden und Pressemitteilungen mit Nennung des Politikers zu veröffentlichen, sei „damals in vielen Publikationen üblich“ gewesen. Medienjuristen widersprechen dem: Ein solches Vorgehen ohne Zustimmung des Urhebers sei damals auch nicht üblich gewesen.
Brisant: The European hat inzwischen zahlreiche Texte und Autorenprofile von der Website gelöscht. Redakteur Ansgar Graw erklärte, dass man derzeit die Herkunft der Inhalte untersuche, die zum Teil schon mehr als fünfzehn Jahre alt seien.
Es ist noch unklar, warum Weimers Zeitschrift in so großem Umfang fremde Texte sammelte und veröffentlichte. Für den Journalisten Alexander Wallasch deutet vieles darauf hin, dass es ihm weniger um Journalismus als vielmehr um Selbstdarstellung ging. „Grundsätzlich sehe ich zwei Motivverdächtige“, sagte Wallasch der Berliner Zeitung. „Erstens will er Werbung verkaufen. Zweitens braucht er natürlich Medien, die er für sein Image als ‚Medienunternehmer‘ zeigen kann. In Talkshows wird er als Chef eines ‚Medienimperiums‘ dargestellt – dafür muss man schon etwas in der Hand haben.“
Seit Jahren stellt sich Weimer als Chef eines Medienimperiums dar, das in Wirklichkeit kaum Reichweite hat. „Er hat sechzehn Produkte, nennt The European sein Flaggschiff, aber wirtschaftlich läuft alles auf Hochtouren. Auf seiner Medienseite schreibt er von 148.000 Lesern und rechnet mit Hunderttausenden weiteren bei angeblichen Kooperationspartnern wie Bild Online oder Focus Online. Das ist absurd.“
Wallasch: „Das kommt mir alles so absurd vor“
Das ganze Konstrukt diene vor allem der Außenwirkung, sagt Wallasch. „Er verkauft sich selbst als Medienmogul, aber die Zahlen sind winzig. Weimer hat diese Zeitschriften gekauft, wie andere Goldringe kaufen – nur seine sind alle gefälscht.“ Er ordnet die groteske Liste von Autoren mit Namen wie Papst Franziskus und Brad Pitt in die gleiche Logik ein. Weimar sammelte Namen, um zeigen zu können, was für bekannte Persönlichkeiten für ihn schrieben.
„Wenn plötzlich der Papst oder Brad Pitt in der Autorenliste auftaucht, wirkt das so absurd, dass man es fast wie eine Schutzbehauptung lesen kann: ‚Sehen Sie, das ist offensichtlich nicht real, hahaha.‘ „Trotzdem scheint es eine Manipulation zu sein“, fügt Wallasch hinzu.
IT-Experten, die Wallasch nach der Veröffentlichung kontaktierten, geben an, im Quellcode der Website Anweisungen gefunden zu haben, die die Anzeige der Artikel durch Google verhindern. „Das kann auf die eigentliche Idee hinweisen“, sagt Wallasch. „Sie wollen überhaupt keine funktionierende Website. Sie dient als Statussymbol, ihre Sichtbarkeit ist auf diejenigen beschränkt, denen Sie Ihre Visitenkarte geben.“
Erst vor wenigen Tagen hielt Wolfram Weimer einen Vortrag auf der Frankfurter Buchmesse und warnte vor dem Diebstahl geistigen Eigentums durch KI.www.imago-images.de
Politisch sei Weimer ein Mann mit Kontakten, aber ohne stabile Basis, sagt Wallasch. „Er hat viel Einfluss, steht aber auf wackligen Beinen. Das erinnert mich an die Ära Kohl. Alles funktioniert über Beziehungen. Wenn die ersten Partner aussteigen, bricht das ganze Gefüge zusammen“, sagt Alexander Wallasch.
Die Affäre sorgt nun für spürbare Unruhe in der Bundesregierung. Wolfram Weimer gilt als enger Vertrauter von Bundeskanzler Friedrich Merz, der ihn im Frühjahr zum Staatsminister für Kultur ernannte. Ein Rücktritt würde daher nicht nur den Minister selbst betreffen, sondern auch direkte Auswirkungen auf die Kanzlerin haben.
„Natürlich wird das Konsequenzen haben“, sagt Alexander Wallasch. „Die AfD ruft zum Rücktritt auf, das war absehbar. Spannend wird es, wenn die großen Medien nachziehen – Bild, Spiegel, Stern. Dann wird es ernst. Denn objektiv gesehen ist das ein klassischer Rücktrittsfall.“ Weimer ist kein Abgeordneter, genießt keine Immunität und spielt bei politischen Operationen keine entscheidende Rolle. „Der Mann ist entbehrlich“, sagt Wallasch. „Und das Problem fängt gerade erst an.“
Transparenzhinweis: Autorenprofile der Berliner Zeitung erscheinen auch in The European, ohne dass eine Genehmigung des Berliner Verlags eingeholt oder genehmigt wurde.
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