Die erste Schlange des Festival-Freitags bildet sich schon am Nachmittag: Indie-Popstar Ennio verlost im Haus73 auf der Schanze Tickets für ein spontan angekündigtes Release-Konzert seines Albums „Schlaraffenland“, viele Fans verfolgen seinen Social-Media-Aufruf. Doch an Tag 3 des Reeperbahn Festivals wäre der Kiez ohnehin voll gewesen. Es ist Freitag. Jetzt mischen sich die vielen Musikfans unter die übliche Partymeute. Wer von Club zu Club eilt, muss Touristenpärchen und Gruppen auf Stadtrundfahrt aus dem Weg gehen. Der Slalom lohnt sich! Hier ein paar Entdeckungen quer durch die Genres.
Ennio: Überraschungskonzert am Freitag
„Je weniger das Ticket kostet, desto geringer die Erwartungen“, ruft Ennio noch spät am Abend in die vollbesetzte Große Freiheit 36 – Understatement, die Fans des Münchners kommen durchaus auf ihre Kosten: verrückte Mitspring-Songs und ruhige Piano-Nummern, dazu jede Menge Überraschungsgäste (unter anderem „Provinz“-Sänger Vincent Waizenegger und Zartmann, der am Vortag mehrfach für Aufsehen gesorgt hatte). Zwei Jahre hat er an dem Album gearbeitet, viel Liebe und Energie hineingesteckt – beides bekommt er vom Hamburger Publikum zurück.
Battlesnake: Metal-Power in Unterhosen
Dialog im Molotow Backyard: „Hey, warst du am Donnerstag bei Battlesnake hier?“ – „Nicht dabei. Hab ich was verpasst?“ – „Ja! Einer hat den anderen huckepack getragen. Nackt! Nur in Unterwäsche! Und dann sind sie zusammen durchs Publikum und die Feuerleiter hochgeklettert!“ – „Unsinn! Wirklich?“ – „Ja! Die sind hochgeklettert! Gefährlich!“ – „Die spinnst!“ – „Nein, Australier!“ Und der nächste Gig gestern im Backyard verlief ziemlich genau so. Fantastischer, schräger Metal von Leuten in fantastischen, schrägen Kostümen. Schön, wenn alles zusammenkommt: tolle Show, tolles Können, toller Spaß. Und ja: Die haben sich wieder nackt gemacht. Und sind auf allerlei Sachen geklettert. Und es gab Pyro (aber eher so ‚Kacka-Kacka-Kack‘-Dinge, nicht ‚Bumm!-Bumm!‘, es sind zwei Hotels nebenan). Die sind wieder ins Publikum gegangen. In Unterwäsche. Verrückt? Australier!
Yot Club: Im Tretboot mit einer Kiste Bier
John Ryan Kaiser spricht Yot Club wie „Yacht Club“ aus, darauf hätte man auch selbst kommen können. Den sonnigen Indie-Pop des Nashville-Songwriters kann man sich gut auf dem Wasser vorstellen – allerdings nicht auf einer Milliardärsjacht, sondern eher im Tretboot mit einer Kiste Bier. Live wird Kaiser im Uebel & Gefährlich von einer dreiköpfigen Band unterstützt: Gitarre, Bass, Schlagzeug, wobei die prominenten Synthesizermelodien von der Festplatte kommen. Das wirkt etwas zurückhaltend, als traut Kaiser der Popularität nicht ganz: Auf Spotify hat der Song „YKWIM?“ mehr als 700 Millionen Plays, das ist Taylor-Swift-Revier – das passiert eben, wenn man auf TikTok durch Zufall viral geht. Vielleicht klappt es ja doch mit dem größeren Dingi.
Pip Blom: Drumcomputer statt Schlagzeug
Pip Blom sind alte Bekannte – sollte man meinen. Wer die niederländische Band in den letzten Jahren allerdings ein wenig aus den Augen verloren hat (vielleicht ist das ein versteckter Selbstvorwurf), der glaubt nach den ersten Takten im Knust, auf dem falschen Konzert zu sein: Die machen doch Indierock, oder? Warum das Synthiepop? Klingt aber auch gut! Tatsächlich war das 2023er Album „Bobbie“ eine Neuorientierung von da nach da: Deshalb klingt die Band (die nach ihrer Frontfrau benannt ist) mittlerweile nach Elektropop, der weiß, wie Rockmusik funktioniert: siehe Chvrches oder Metric. Ältere Songs gibt es noch – die arbeiten mit Drumcomputer statt Schlagzeug. Die Band ist außerdem unglaublich sympathisch, daran hat sich zum Glück überhaupt nichts geändert.
NewDad: Riecht nach Trockeneis in der Wave-Disko
NewDad aus Galway sind nicht unbedingt die originellste Band der Welt: Die Einflüsse aus Neunzigerjahre-Alternative und Shoegaze sind unübersehbar, selbst das Merch sieht aus, als stamme es von einem Bizarre-Festival um 1996. Es gibt zahlreiche Déjà-vu-Momente, und so dauert es eine Weile, bis einem klar wird: Ah, das klingt nicht nur nach The Cure – es ist tatsächlich ein Cover von „Just Like Heaven“. Der perfekt einstudierte Indie-Grabraub im Uebel & Gefährlich macht Spaß, in der Wave-Disko und auf der Festival-Hauptbühne riecht es am Nachmittag nach Trockeneis.
King Hannah: Die heimlichen Headliner
Mit einem zehnminütigen Song zu eröffnen ist ein Statement, aber King Hannah wissen, was sie tun: „Somewhere Near El Paso“ ist das Herzstück des aktuellen Albums „Big Swimmer“ – eine ruhig dahinfließende Nummer, die sich immer weiter aufbaut, um nach der Pause in einem Postrock-Akkordgewitter zu enden, das Mogwai erblassen lässt. Alles an King Hannah wirkt inzwischen größer als noch vor ein paar Jahren, als die Band in Hamburg Mühe hatte, den Lift zu füllen. Die Gitarren sind lauter, die Songs epischer, Hannah Merrick trägt ein rotes Rüschenkleid statt lässiger Klamotten. Ein Beispiel für gesundes Wachstum.
O.: Die Band mit dem unauffindbaren Namen
Dass Gitarristen mit Effektpedalen allerlei Sound-Doping an ihren Instrumenten betreiben, ist normal, aber mit einem Saxophon klappt das auch. O. sind ein Duo (und Paar) aus London, Joe spielt das Blechblasinstrument, Tash das Schlagzeug. Die ungewöhnliche Besetzung erschließt sich erst nach den ersten Takten – und dann fügt sich alles zusammen. O. sind stumpf und filigran, tanzbar, mit komplexen Grooves und ohne eindeutige Genre-Einordnung. Jazz-Punk? Art-Pop? Nach einer richtig süßen Ansage („nicht nur der beste Schlagzeuger, mit dem ich je gespielt habe, auch der beste Mensch, mit dem man sein Leben teilen möchte“) denkt man sich: Vielleicht sind das ja auch nur Liebeslieder. (DUE/MW/NR)