Stand: 16.07.2024 06:32
Vor knapp vier Monaten – am 22. März 2024 – wurde in der Stader Altstadt ein Mann mit einem Messer in den Kopf gestochen. Auf offener Straße eskalierte am helllichten Tag ein Clankrieg. Wie konnte es dazu kommen?
Bei dem Opfer handelt es sich um Khaled Rachid El-Zein, ein bekanntes Mitglied des El-Zein-Clans in Stade. Der Mann starb am nächsten Tag in einem Stader Krankenhaus. Nach Recherchen des NDR und des ARD-Politikmagazins report München (Bayerischer Rundfunk) war die zunächst nach einem Verkehrsunfall aussehende Eskalation der Endpunkt eines Streits zwischen zwei türkisch-arabischen Großfamilien. Dem Rechercheteam liegen vertrauliche Polizeiunterlagen vor. Sie belegen, dass der tödlichen Eskalation mehrere gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den beiden Clan-Familien vorausgingen.
Tödliche Eskalation: Die Ausgangslage
In Stade gibt es mehrere Großfamilien mit ausländischen Wurzeln. Viele ihrer Mitglieder sind ehrenwerte Bürger und gehen normalen Berufen nach. Clan-Experte Thomas Ganz, ehemaliger Ermittler beim Niedersächsischen Landeskriminalamt, rechnet dennoch mit einem Kern von rund 350 Personen, die Großfamilien mit kriminellen Strukturen zugeordnet werden können: „Alle diese Familien tauchen seit vielen Jahren immer wieder in unterschiedlichen Kriminalitätsbereichen auf, immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen und Gewalteskalationen.“ Im September 2022 wurde in Stade ein Mann in einem Döner-Imbiss durch einen Kopfschuss getötet. Im Januar 2024 wurde ein weiterer Mann aus dem Clan-Milieu getötet, die Leiche wurde in der Nähe des Stader Bahnhofs gefunden. Inklusive der jüngsten Messerattacke gab es in Stade innerhalb von weniger als zwei Jahren drei Tötungsdelikte im Clan-Milieu.
Es beginnt mit einem Überfall auf einen Shisha-Laden
Nach polizeilichen Ermittlungen begannen die Auseinandersetzungen am 22.03.2024 gegen 16 Uhr mit einem Überfall mehrerer Mitglieder des El-Zein-Clans auf einen Shisha-Laden in der Fußgängerzone. Die Polizei rechnet den Laden dem Miri-Clan zu. Ein im Internet kursierendes Video zeigt Aufnahmen einer Überwachungskamera. Nach Recherchen von report München und NDR war auch der später in Stade getötete Khaled El-Zein an dem Überfall auf die Miris beteiligt. Der Mann nutzt zwar auch den Namen Rachid, gehört nach polizeilichen Erkenntnissen und eigenen Aussagen seiner Familie aber dem El-Zein-Clan an.
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Clan-Kriminalität: Reaktionen auf den Stade-Anschlag
Als Reaktion auf den Überfall auf den Shisha-Laden überfiel ein Mitglied der Familie Miri ein Haus der El-Zeins im Altländer Stadtteil, einem sogenannten Problemviertel in Stade mit einem hohen Migrantenanteil. Nach Erkenntnissen der Polizei suchten Mitglieder der Familie El-Zein daraufhin im Stadtgebiet nach den Miris und rammten gegen 17.15 Uhr auf der Straße „Beim Salztor“ gezielt ein Fahrzeug mit Mitgliedern des Miri-Clans. Polizisten waren schnell vor Ort und gingen zunächst von einem Verkehrsunfall aus. Bei der darauf folgenden Schlägerei zwischen den Familien stach ein Mitglied des Miri-Clans Khaled El-Zein nach polizeilichen Ermittlungen mit einem Messer in den Kopf. In dem Tumult konnten Polizisten die Tat nicht verhindern.
Khaled El-Zein stirbt im Krankenhaus nach Messerangriff
Am Tag des Vorfalls, kurz nachdem die Auseinandersetzungen begonnen hatten, fuhren mehrere sogenannte Friedensrichter nach Stade. Dabei handelt es sich um Angehörige und religiöse Führer, die nach eigenen Angaben eine weitere Eskalation der Situation in Stade verhindern wollten. Einer der sogenannten Friedensrichter ist ein Angehöriger des Opfers und Imam in einer Moschee in Essen. Der schwer verletzte Khaled El-Zein wurde in die Elbeklinik in Stade gebracht. Familienmitglieder versammelten sich vor der Klinik, die Polizei schützte das Krankenhaus. Am folgenden Tag erlag Khaled El-Zein seinen Verletzungen. Die Familie begrub ihn im Libanon, von wo aus Familienmitglieder ursprünglich nach Deutschland eingewandert waren.
Konkurrenzkampf und Gebietsstreitigkeiten als Grund?
Angehörige des Opfers, darunter sein Bruder, machten gegenüber NDR und Report München keine Angaben zu dem Vorfall und den Hintergründen. Die Familie El-Zein betreibt in der Stader Innenstadt einen Shisha-Laden, die Polizei vermutet als mögliche Grundlage für den Streit mit den Miris eine Konkurrenzsituation. Die genauen Ursachen des Streits sind noch unklar, die Polizei hat jedoch ermittelt, dass es bereits im November 2023 im rund 60 Kilometer entfernten Buchholz in der Nordheide zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen den beiden Großfamilien gekommen war. Clan-Experte Thomas Ganz geht davon aus, dass es sich um einen Revierstreit handelte: „Besonders wichtig ist, dass jeder dieser Clans ein bestimmtes Territorium für sich abgesteckt hat. Was auch immer dort geschieht, auch kriminelle Handlungen, ein solcher Clan duldet keine Einmischung von außen durch einen anderen Clan.“
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Oberstaatsanwalt braucht Personenschutz
Das Opfer, Khaled El-Zein, stand bereits von 2010 bis 2013 in einem großen Drogenprozess in Stade vor Gericht. Während der Ermittlungen wurde ein Oberstaatsanwalt bedroht und durfte sich daraufhin mehrere Jahre nur mit Personenschutz in Stade bewegen. Nach einem Aufruhr aufgebrachter Angehöriger im Stader Schwurgerichtssaal musste der Prozess in einen Hochsicherheitsgerichtssaal in Celle verlegt werden. Dort wurde Khaled El-Zein 2013 wegen Drogenhandels zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt.
Angehöriger des Täters spricht von Schuld
Die Polizei nahm den mutmaßlichen Messerstecher, ein 24-jähriges Mitglied des Miri-Clans, in Buchholz in der Nordheide fest. Das Rechercheteam konnte in Kiel mit einem Schwager des mutmaßlichen Täters sprechen. Dieser lehnte ein offenes Interview ab, schilderte den Tathergang jedoch ausführlich. Er hält die Eskalation für eine Tragödie für beide Familien. Der Streit habe sich an Nebensächlichkeiten entzündet. Sein Schwager habe seinen Bruder während des Streits auf der Brücke lediglich schützen wollen, und die Männer hätten sich zuvor, als der Streit begann, Messer besorgt. Schuld sei aber das Opfer selbst, da es den Streit immer wieder provoziert habe. Es sei nicht ausgeschlossen, dass es weiter zu Auseinandersetzungen kam. Die Familie El-Zein verlor letztlich einen Sohn und einen Bruder. Die Staatsanwaltschaft Stade ermittelt noch, der mutmaßliche Täter sitzt in Untersuchungshaft.
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