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Christian Thielemann verletzt sich auf offener Bühne, blutet

Christian Thielemann verletzt sich auf offener Bühne, blutet

Die Zwanzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts waren bis vor kurzem die Domäne der Komischen Oper. Barrie Kosky hatte die Operetten, die vielfach den Federn jüdischer Komponisten entstammen, wiederentdeckt. Am Silvesterabend zog die Staatsoper Unter den Linden nach. Christian Thielemann präsentierte einen Reigen bekannter und weniger bekannter Melodien von Paul Lincke über Paul Abraham bis Werner Richard Heymann. Garniert wurde die Revue mit einigen Takten von Johann Strauss und Kurt Weill. Thielemann leitete die vorzügliche Staatskapelle Berlin und wurde von einem etwas steifen Salonorchester unter Elias Corrinth unterstützt. Der Generalmusikdirektor verstand es, die Unterhaltungsklänge immer wieder abgründig zu interpretieren. Manches klang nach Richard Wagner, anderes nach Richard Strauss. Man würde gerne einmal wirklich eine ganze Operette von Thielemann dirigiert hören, einen Léhar zum Beispiel, der ja geistesverwandt ist mit Puccini und subtil ist und emotional. Thielemann kann Seelendrama, man sollte ihn zu Höchstleistungen zwingen.

Bei Johann Strauss gelang es Thielemann in Sekundenbruchteilen, die Zuhörer in das schwarze Loch der Wiener Gemütlichkeit zu ziehen, man schauderte, als würde Josef Fritzl aus der Partitur grinsen. Doch es gibt auch eine gute Welt, und die siegte. Thielemann und die Solisten Diana Damrau und Mauro Peter musizierten als Draufgabe „Irgendwo in der Welt“ von Heymann unprätentiös, anrührend, ohne Hintergedanken, ganz ohne Hinterhalt. Da war dann der Silvester-Klamauk vergessen, niemand hopste mehr unbeholfen und unnötig über die Bühne. Es wurde leise und echt. Auch ein Stück des großartigen Heymann könnte die Staatsoper ins Repertoire nehmen, die „Kiki vom Montmartre“ zum Beispiel, die eigentlich nach Berlin gehört. Wer nicht so lange warten will, kann jetzt übrigens die Heymann-Lieder als Songbook kaufen, das es seit einiger Zeit endlich wieder beim Verlag Schott gibt. Auch aus der „Kiki“ gibt es unter den 40 Songs zwei Lieder. Gesetzt ist das Songbook für Stimme und Klavier, ein Geschenk für alle, die Musik nicht nur passiv konsumieren wollen.

Wie gefährlich reales Musizieren sein kann, zeigte sich auch an diesem letzten Abend des Jahres 2024 in der Staatsoper. Christian Thielemann verletzte sich während einer kurzen Ansprache an der scharfen Kante einer Partiturseite, es floss Blut. Thielemann saugte an seinem Finger, informierte das Publikum und wirkte für einen Augenblick irritiert. Doch hinter ihm stand nicht Hagen. Ein weiblicher Fan stürmte auf den Maestro zu, reichte ihm ein Taschentuch. Später gab eine Musikerin Thielemann ein Pflaster. Jeder Musiker weiß von eigenen Erfahrungen beim hastigen Umblättern, wie schmerzhaft ein von einer scharfen Papierkante ausgelöster Schnitt ist. Bei alten Partituren besteht übrigens weniger Schnittgefahr als bei digitalen Ausdrucken. Der obligate Blumenstrauß ging an die Konzertmeisterin.

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