Bulgariens historischer Bankrott
Hungrige Türken machen das „500-jährige Joch“ noch schlimmer
Von David Needy, Sofia
12. Oktober 2025, 7:49 Uhr
Mit einem besonderen WM-Qualifikationssieg über Bulgarien macht die Türkei ihre eigene historische Schande vergessen. In einem Spiel, in dem nichts normal ist, sorgen die politische Geschichte und ein ehemaliger Revolutionär für zusätzlichen Treibstoff.
Bulgarien gegen die Türkei. Lions gegen Crescent. Das ist kein normales Fußballspiel. Zu viel verbindet (oder trennt) die beiden Länder. Geschichte, Kriege, Kultur. Und eine 270 Kilometer lange Grenze. Die 1:6 (1:1)-Niederlage gegen den ungeliebten Nachbarn in der WM-Qualifikation schmerzt Bulgarien am Samstagabend umso mehr. Es ist eine historische Niederlage, denn es ist Bulgariens erste Heimniederlage gegen die Türkei, die sich nach der 0:6-Katastrophe gegen Spanien rehabilitieren muss. Doch nicht nur deshalb liegt im Wassil-Lewski-Stadion in Sofia immer ein Hauch von Geschichte in der Luft, der großen sowjetischen Salatschüssel mit Laufbahn. Mehr dazu später.
Die erste Halbzeit endete 1:1, weil die tapfer kämpfenden Bulgaren den frühen Rückstand ab der 11. Minute durch Real-Madrid-Superstar Arda Güler nach einem Doppelpass mit Hakan Calhanoglu sofort egalisierten – der ehemalige Bundesliga-Star war der sechste Türke, der sein 100. Länderspiel bestritt. 120 Sekunden nach dem Rückstand, während die Türkei noch schläft, flankt Kiril Despedov von rechts. Radoslav Kirilov stürmt aus dem Hinterhalt und schießt einem ausgerutschten Verteidiger ins Gesicht, von wo aus der Ball ins Tor trudelt. Den Bulgaren ist ein bisschen Verwirrung egal, vor allem gegen die Türkei. Doch unter den rund 15.000 Zuschauern im 43.632 Zuschauer fassenden Stadion haben die Türken die Oberhand, auch weil ihnen von Funktionären etliche kleine Fahnen in die Hände gedrückt werden.
Katastrophe im Stadion des Nationalhelden
In der bulgarischen Mannschaft, die als Lions bekannt ist, sind in Deutschland vor allem Ilia Gruev, der mehrere Jahre für Werder Bremen spielende Mittelfeldspieler von Leeds United, und der Elversberg-Stürmer Lukas Petkov bekannt. Beide sitzen zunächst auf der Bank.
Das 1953 erbaute Stadion, in dem der Zentralarmee-Sportverein (ZSKA) und Lokomotive Sofia ihre Ligaspiele austragen, trägt einen viel bedeutenderen Namen: Wassil Levski (deutsch: der Löwenähnliche), geboren 1837, gilt als Nationalheld, war ein orthodoxer Mönch und vor allem ein führender Revolutionär und Ideologe der bulgarischen Freiheitsbewegung.
Revolution gegen wen? Die türkische Fremdherrschaft über das bulgarische Gebiet, die dort noch heute als „500-jähriges Joch“ beschimpft wird, nachdem das Osmanische Reich im 14. und 15. Jahrhundert das orthodoxe Bulgarien unterworfen hatte. Eine Interpretation, die Lewski geprägt hat. Er kämpfte gegen die Türken und für eine demokratische Republik mit Menschenrechten nach dem Vorbild der liberalen Ideen der Französischen Revolution.
„Wenn wir verlieren…“
Am Samstagabend passiert in Sofia einiges, das zumindest für Beobachter, die an westliche Fußballspiele gewöhnt sind, besonders ist. Vor dem Stadion verkaufen Verkäufer neben den obligatorischen Derby-Schals auch verschiedene geröstete Nüsse und Schokoladenprodukte. Die Akkreditierungen werden den internationalen Journalisten im halbdunklen Park unweit des Stadions von einem Mitarbeiter des Bulgarischen Fußballverbandes in Trainingshosen übergeben. Die Mixed Zone für die Interviews findet in einer alten Turnhalle statt, in der normalerweise Ballett getanzt wird. Der Holzboden knarrt und es riecht wie in einer Umkleidekabine. Direkt neben den TV-Kameras werden verbrauchte Batterien in einem großen Plastikcontainer gesammelt, und am Zeichenbrett versucht jemand anhand eines DIN-A4-Ausdrucks, Kindersneaker loszuwerden.
Ungewöhnlich ist auch der Anpfiff um 21:45 Uhr, was den vielen Kindern im Stadion aber egal ist. Allerdings fand die bulgarische Revolution nach der Pause nicht auf dem Fußballplatz statt. Stattdessen nutzt die Türkei ihre vielleicht letzte Chance auf die WM in den USA, Kanada und Mexiko. „Heute muss man eigentlich gewinnen“, sagte ein türkischer Fan vor dem Spiel zu ntv.de. „Aber nach dem letzten Spiel weiß man es nicht. Wenn wir verlieren, wird es für die Weltmeisterschaft wirklich schwierig.“ Es geht auch um Wiedergutmachung nach dem Albtraum gegen Europameister Spanien.
Nach der Halbzeit geht es dort los
Dementsprechend hungrig bändigten die Türken die Lions innerhalb weniger Minuten nach Wiederanpfiff. Viktor Popov lupft in der 49. Minute einen langen Ball über den Torwart hinweg in den Strafraum. Alleine ist es Dimitar Mitov, sein eigener Torwart und sein eigener Strafraum. Das bedeutet, dass Bulgarien völlig auseinanderfällt und die Löwen getötet werden.
Nur 120 Sekunden später erzielte der 20-jährige Kenan Yildiz nach Vorlage des gleichaltrigen Güler das 3:1. Fünf Minuten später erzielte Yildiz einen Doppelpack. Nachdem Zeki Celil in der 65. Minute den Güler-Eckball völlig unbehelligt zum 5:1 einköpfen konnte, erzielte Can Kahvei in der 93. Minute schließlich den Endstand.
Das Spiel ist nicht nur wegen der Pleite Bulgariens historisch, sondern auch wegen der fußballerischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Das erste Duell auf dem Platz fand vor 100 Jahren statt. Es war das dritte Spiel der Lions überhaupt und die Türkei gewann mit 3:1 – auch weil der Gegner fast eine Halbzeit lang ohne Torwart spielte. Vor genau 20 Jahren errang Bulgarien seinen letzten Sieg gegen die Türkei. An der Seitenlinie stand damals Hristo Stoitchkov, der DFB-Terrorist, der bei der WM 1994 mit sechs Toren Torschützenkönig wurde und Deutschland im Viertelfinale aus dem Turnier und sein kleines Land ins Halbfinale schoss – der größte Erfolg der Geschichte.
Türken-Trainer wollte „Geschichte ändern“
Vincenzo Montella, Trainer der Türken, sagte vor dem Spiel: „Wir wollen die Geschichte ändern.“ Dies geschah kurz vor Mitternacht mit für Bulgarien schmerzhafter Heftigkeit. Um Provokationen und Auseinandersetzungen zu vermeiden, müssen türkische Fans bis 25 Minuten nach Abpfiff in ihrem Block bleiben.
Wassil Levski merkt davon nichts mehr; Er wurde im Dezember 1872 von den Türken gefangen genommen und einen Monat später in der Nähe von Sofia gehängt. Statt seiner Demokratie gründete Bulgarien 1878 erstmals ein Fürstentum und 1908 ein von der Türkei völlig unabhängiges Königreich. „Wenn ich gewinne, gewinne ich für ein ganzes Volk – wenn ich verliere, verliere ich nur mich selbst“, sagte der Revolutionär einmal. In Sofia verliert sich Bulgarien an diesem Abend nicht – und doch für ein ganzes Volk.