Am kommenden Dienstag entscheiden die Amerikaner, wer als nächstes ins Weiße Haus einzieht: Kamala Harris oder Donald Trump. Auf den Gewinner wartet ein schweres Erbe: „Für den Ausstieg aus Öl und Gas gibt es keine Lösung“, sagt Sonja Thielges von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) im „Klimalabor“ von ntv. „Energieverbrauch wird als Teil der amerikanischen Freiheit wahrgenommen.“ Dennoch ist der Experte für internationale Klimapolitik voll des Lobes für die Arbeit von US-Präsident Joe Biden: Unter seiner Ägide haben die USA erstmals Klimaschutzgesetze verabschiedet, einige davon überparteilich, potenziell mehr als eine Billion US-Dollar In Elektroautos, Batterien und erneuerbare Energien werde investiert – auch oder gerade in streng republikanischen Bundesstaaten wie Texas: „Der Bau von Solarparks kann mittlerweile ein sehr attraktives Geschäft sein.“
ntv.de: Sind die USA nach fast vier Jahren mit Joe Biden im Weißen Haus ein Verbündeter oder ein Feind im Kampf gegen den Klimawandel?
Sonja Thielges: Stand heute sind Sie auf jeden Fall eine Verbündete. Die Biden-Regierung war sehr aktiv und auf der Linie der EU- und deutschen Politik.
Ist Joe Biden mit seinem berühmten Inflation Reduction Act (IRA) der Klimakanzler, der Olaf Scholz eigentlich sein wollte?
Biden trat sein Amt mit dem Ziel an, den Klimaschutz in den USA voranzutreiben. Er hat das getan und es mit wirtschaftspolitischen Fragen verknüpft. Klimaschutz bedeutet für ihn: Jobs, Jobs, Jobs. Er verfolgte diese Agenda, setzte sich hohe Ziele und erreichte sie. Es gelang ihm tatsächlich, Klimaschutzgesetze zu verabschieden. Das hat vor ihm noch niemand geschafft. Das ist historisch. Einige von ihnen sind sogar überparteilich. Die Republikanische Partei hat diesen Gesetzen vielleicht aus anderen Gründen zugestimmt, aber sie stimmten zu.
Welche Gesetze waren das?
Es gibt drei große: ein Infrastrukturgesetz, den Chips and Science Act, bei dem es um die Förderung der Halbleiterproduktion geht, die auch für erneuerbare Energietechnologien relevant ist. Und natürlich das Inflation Reduction Act. Dies wird in Europa und Deutschland zu Recht als das Klimaschutzgesetz der USA wahrgenommen, da es den größten Anteil der Ausgaben für die Transformation der USA vorsieht. Die US-Regierung hat Investitionen in Höhe von mindestens 370 Milliarden US-Dollar geplant. Das sind beispiellose Summen. Mittlerweile wird sogar geschätzt, dass es letztendlich das Dreifache dieses Betrags sein könnte, da die IRA große, unbegrenzte Steuererleichterungen enthält. Je mehr Menschen Elektroautos kaufen oder erneuerbare Energien nutzen, desto mehr Geld stellt die IRA zur Verfügung. Das ist auf jeden Fall ein großer Erfolg.
Und das Gegenteil von Deutschland? In den letzten Jahren hat die Ampel aufgrund der Haushaltskrise die Förderung grüner Technologien wo immer möglich gekürzt.
Ich vergleiche nicht gern, weil das politische System in den USA völlig anders ist. Joe Biden muss nicht mehrere Parteien und Ministerien unter einem Dach vereinen, sondern kann als Präsident einfach Dinge ordnen. Er hat den USA lediglich das Klimaziel gesetzt, ihre Emissionen bis 2030 unter das Niveau von 2005 zu halbieren und das Stromsystem bis 2035 zu dekarbonisieren. Dafür braucht er die Parteien nicht. Im Gegensatz zu Deutschland sind die USA auch technologieoffen. Biden ist offen für den Einsatz von CSS, also der Abscheidung und Speicherung von CO2, sowohl für die Industrie als auch für Gaskraftwerke. Er ist auch offen dafür, dass Wasserstoff aus erneuerbaren Energien und Erdgas hergestellt werden kann. Die USA sind in diesem Bereich traditionell sehr pragmatisch.
Diese Investitionen sind ein großer Schritt, bedeuten im Umkehrschluss aber auch: Bisher haben die USA keine einzige Tonne CO2 eingespart.
Nein. Die USA investieren viel Geld in klimaschutzrelevante Technologien. Gleichzeitig blieben sie unter Joe Biden der weltweit größte Öl- und Gasproduzent. Es ist äußerst wichtig, dies im Hinterkopf zu behalten. Ganz gleich, wer Präsident wird, das ist ein schwieriges Erbe. Es gibt keine Lösung, wie man dem entkommen kann.
In Deutschland werden regelmäßig neue Rekorde bei der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien gemeldet. Im ersten Halbjahr lag der Anteil bei über 60 Prozent. Teilweise wird so viel Ökostrom erzeugt, dass wir nicht wissen, was wir damit machen sollen. Wie sieht der amerikanische Strommix derzeit aus?
In den USA beträgt der Anteil erneuerbarer Energien nur gut 20 Prozent. Allerdings sind sie auch nicht aus der Atomkraft ausgestiegen. Rechnet man die Atomkraft hinzu, sind es noch einmal 20 Prozent. Doch die eigentliche „Erfolgsgeschichte“ der letzten Jahre war Erdgas. Das bedeutet, dass viele neu gebaute Kraftwerke in Betrieb sind und die Kohleverstromung stark zurückgegangen ist.
Die USA fördern und produzieren mehr Erdgas als je zuvor und wollen gleichzeitig ihre Emissionen bis 2030 halbieren … wie soll das gehen?
Die gesteigerte Öl- und Gasproduktion kommt vor allem dem Ausland zugute. Europa ist mittlerweile der größte Empfänger von amerikanischem Flüssigerdgas. Früher war alles anders. Das ist eine Entwicklung der letzten zwei Jahre, weil wir russisches Gas ersetzen wollen. Und wenn wir amerikanisches Erdgas verbrennen, zählt das nicht für die amerikanische Klimabilanz. Auch bei den neuen Gaskraftwerken setzen die USA auf eine Option, die in Deutschland wenig Anklang findet: Die Biden-Administration hat festgelegt, dass ab 2032 Emissionen am Kraftwerk aufgefangen und dauerhaft unter der Erde gespeichert werden müssen.
Die berühmte Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (CCS).
Genau. In Deutschland wird dies nur für die Industrie diskutiert, da dort Emissionen aus verschiedenen Gründen nicht vermieden werden können. In den USA gibt es diese Debatte gar nicht. Dort will man CCS auch für Gaskraftwerke einsetzen, damit diese länger nutzbar sind.
2032 ist bald. Kann die Branche Erfolge vermelden?
Nein, CCS steckt überall auf der Welt noch in den Kinderschuhen. Es gibt vereinzelte Projekte, bei denen diese Technologie getestet wurde. Aus wissenschaftlicher Sicht ist es fraglich, ob CCS bis 2032 überhaupt so weit ausgebaut werden kann, dass es einen wesentlichen Beitrag zu den Klimazielen leisten kann. Das ist Zukunftsmusik, aber es wird Geld in Forschung und Entwicklung gesteckt. Es ist zu erwarten, dass CCS in den USA und international zum Einsatz kommt.
Das klingt nach Planung mit rosaroter Brille.
Bis zu einem gewissen Grad ja. In den USA gibt es keinen CO2-Preis oder CO2-Handel, der die Emissionen reguliert. Es gibt auch keine Vorgaben, welche Branchen wie viel sparen müssen. Dies wurde nirgendwo angegeben. Die Biden-Administration versucht lediglich, so viele Anreize wie möglich zu schaffen und geht grob davon aus, dass diese Emissionsreduzierungen erreicht werden könnten, wenn Technologien wie CCS erfolgreich von Investoren und Verbrauchern übernommen würden. Mit einem Daumen könnte es funktionieren. Aber man darf nicht vergessen: Bidens Vorgaben basieren nicht auf Gesetzen, sondern auf Anordnungen. Sie sind nicht in Stein gemeißelt, sondern können umgekehrt werden.
Wo sehen Sie noch Potenzial? Die USA haben mit 14,2 Tonnen pro Kopf einen extrem hohen CO2-Ausstoß. Nur in Australien (14,3), Kanada (14,9) und Saudi-Arabien (16,6) ist sie höher. In der EU sind es 6,3 Tonnen.
Die USA haben, wenn ich es so nennen darf, ein kulturell bedingtes Effizienzproblem. Der Energieverbrauch wird als Teil der amerikanischen Freiheit wahrgenommen. Donald Trump etwa ist ein Energieeffizienzprogramm für Haushaltsgeräte ein Dorn im Auge. Er will das Label für sparsame Waschmaschinen und Kühlschränke abschaffen, denn jeder soll so viel Energie verbrauchen, wie er möchte – und das zu einem möglichst niedrigen Preis. Für ihn ist dies Teil des Konzepts der amerikanischen Freiheit; Viele Amerikaner unterstützen es.
Das Argument, dass man mit effizienteren Kühlschränken Geld sparen könne, greift also nicht durch?
Dieser Versuch wird unternommen, aber angesichts der niedrigen Energiepreise ist es schwieriger. Das gilt nicht nur für Strom, sondern auch für Benzin. Der Anreiz, auf ein effizientes Modell umzusteigen, steigt, wenn man Euro und nicht nur ein paar Cent spart. Zumal man meist erst investieren muss, um später sparen zu können. Tatsächlich fördern viele US-Bundesstaaten die Installation von Solarmodulen auf Dächern. Doch gerade für ärmere Haushalte, Arbeitslose oder sonst benachteiligte Menschen ist das viel Geld. Dann ist es attraktiver, einfach günstigen Strom aus Kohle oder Gas zu beziehen.
Doch der weltweite Trend zum Ausbau erneuerbarer Energien macht auch vor den USA nicht halt. Überraschenderweise ist es der Öl- und Gasstaat Texas, der eine enorme Anzahl erneuerbarer Energien baut.
Texas ist faszinierend. Dies ist nicht nur der größte Öl- und Gasproduzent der USA. Auch Kalifornien hat inzwischen die Solarenergie überholt und baut dort seine größten Kapazitäten aus. Der Anteil erneuerbarer Energien am Strommix beträgt 27 Prozent. Das ist im Vergleich zu anderen Ländern hoch. Aber selbst wenn Texas seinen Strommix auf 100 Prozent erneuerbare Energien umstellen würde, würde es weiterhin Öl und Gas fördern, weil diese im Zweifel in anderen Sektoren oder Ländern verbraucht werden.
Können Sie den „Business Case“ dieser Entwicklung noch erläutern? Die Zahlen sind beeindruckend, aber der Solarausbau hat offensichtlich nichts mit Umwelt- oder Klimaschutz zu tun.
Die Regierung in Texas hat kein Interesse am Klimaschutz. Dennoch war Texas in den 1990er Jahren der erste US-Bundesstaat, der erneuerbare Energien im Stromsystem vorschrieb, und zwar aus einem einfachen Grund: Das war, bevor Fracking funktionierte. Sie wollten unabhängiger vom Öl aus den Golfstaaten und anderen OPEC-Staaten werden. Deshalb förderte Texas erneuerbare Energien. Diese Förderung lief später aus…
…aber der „Schaden“ war bereits angerichtet?
Ja. Das sind Marktentwicklungen. Die Kosten für Solarmodule sind dramatisch gesunken. An sonnigen Orten wie Texas kann der Bau von Solarparks mittlerweile ein sehr attraktives Geschäft sein, von dem Investoren profitieren können.
Clara Pfeffer und Christian Herrmann sprachen mit Sonja Thielges. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet. Das gesamte Gespräch können Sie im „Klima-Labor“-Podcast nachhören.
Was hilft wirklich gegen den Klimawandel? Das „Klimalabor“ ist der ntv-Podcast, in dem Clara Pfeffer und Christian Herrmann Ideen, Lösungen und Ansprüche auf Herz und Nieren prüfen. Ist Deutschland ein Strombettler? Vernichtet die Energiewende Industrie und Arbeitsplätze? Warum erwarten so viele Menschen ihren wirtschaftlichen Niedergang? Warum sind immer die Grünen schuld? Sind Seeadler wirklich wichtiger als Windkraftanlagen? Kann Atomkraft uns retten?
Das ntv-Klimalabor: Jeden Donnerstag eine halbe Stunde, die informiert, Spaß macht und aufräumt. Bei ntv und überall, wo es Podcasts gibt: RTL+, Amazon Music, Apple Podcasts, Spotify, RSS-Feed
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