Am 8. November 1975 ereignete sich in Bremen eine der seltsamsten Geschichten der Bundesliga. Wolf-Dieter Ahlenfelder pfiff nach 32 Minuten im betrunkenen Zustand die Halbzeitpause. Unterstützung erhält der Schiedsrichter im doppelten Sinne von Werder-Held Horst-Dieter Höttge.
Die Gans war fett. Und zuerst der angemachte Rotkohl. Bier, Malteser – das vorgezogene Weihnachtsfest im November ist gut verdaut. Wenn es um Ihre Gesundheit geht. Problematischer ist jedoch die Tatsache, dass nicht nur der Linienrichter mit einer Fahne auf das Spielfeld rennt.
Wolf-Dieter Ahlenfelder hat die Geschichte oft als Grund dafür angeführt, dass er am 8. November 1975 im Spiel zwischen Werder Bremen und Hannover 96 leicht betrunken nach nur 32 Minuten die Halbzeitpause pfiff. Allein: Die Geschichte ist schön, aber fiktiv. Die fette Gans gab es nie, ebenso wenig wie den gewürzten Rotkohl. Das Bier und das Malteser, ja, natürlich, das tun sie. Zumindest in einer einfachen Version. Eher mehr.
Der Text erschien erstmals 2013 im Rahmen einer WELT-Reihe. Wolf-Dieter Ahlenfelder und Horst-Dieter Höttges sind beide verstorben. Ahlenfelder wurde 70 Jahre alt, Höttges 79. Die Redaktion hat beschlossen, die Geschichte im Hinblick auf das 50-jährige Jubiläum am 8. November noch einmal im Original zu veröffentlichen.
An dem Tag, der als einer der seltsamsten in die Geschichte der Bundesliga eingehen wird, bleibt Ahlenfelder ruhig. Einen bodenständigen Mann aus dem Ruhrgebiet bringt nichts aus der Fassung. Vor allem kein Gedeck, das sie später nach dem Schiedsrichter in Bremen benennen würden. Auch heute noch bekommt man in manchen Kneipen ein Bier und einen Korn, wenn man beim Wirt einen „Ahlenfelder“ bestellt.
Der damals 31-jährige Schiedsrichter war im Grunde ein Neuling, der für eine Unkostenpauschale von 24 Mark pfeifte. Horst-Dieter Höttges hingegen ist ein erfahrener Profi. Europameister, Weltmeister, das Spiel am 8. November ist das 338. seiner Karriere in der Bundesliga. Er habe im Fußball so ziemlich alles erlebt, denkt er. Bis zu diesem unglaublichen Nachmittag.
„Mann, Wolf-Dieter, du bist total blau.“
Werders Schiedsrichter-Betreuer Richard Ackerschott hat ein Mittagessen mit Ahlenfelder vereinbart. Es gibt keine Gans, dafür aber das inoffizielle Nationalgericht der Norddeutschen: Grünkohl und Pisse. Anschließend gehören Schnaps und Bier zur perfekten Abrundung. „Wir sind Männer und trinken kein Fanta“, wird Ahlenfelder später sagen.
Doch ganz so harmlos ist die Sache nicht. „An diesem Tag hatte auch unser Masseur Geburtstag“, sagt Höttges. „Eine Stunde vor Anpfiff kam Ahlenfelder in unsere Kabine, um uns zu gratulieren. Er trug nur Shorts und ein Kurzarmshirt. Und das im November.“ Dann sagte er zum Schiedsrichter: „Frau Wolf-Dieter, du riechst nach Alkohol, du bist völlig blau.“ Doch Ahlenfelder sagt Nein und verhält sich männlich. Höttges erkennt jedoch sofort die missliche Lage und zeigt ein Herz für den trinkfreudigen Pfeifenmann. „Zuerst zog ich ihn bis auf die Unterhose aus, stellte ihn unter die Dusche und rieb seinen gesamten Oberkörper kräftig mit ‚Wick‘ ein.“
Eigentlich ist „Wick“ ein Mittel zur Behandlung von Erkältungen. Es hat aber auch einen schönen Nebeneffekt: In großen Dosen aufgetragen wirkt es äußerst belebend. Und noch etwas ist wichtig: Der Geruch von Menthol und Eukalyptus überdeckt die starke maltesische Flagge vollständig.
Höttges‘ Kampagne erweist sich zumindest kurzfristig als erfolgreich. Ahlenfelder – nun wieder passend gekleidet – kann ab 15:30 Uhr zumindest mit der Spielleitung beginnen. Erst als er nach einer guten halben Stunde zur Halbzeitpause pfeift, droht der Schwindel offenbar zu werden. Höttges läuft auf ihn zu und sagt: „Wolf-Dieter, bist du sicher, dass schon Halbzeit ist?“ Ahlenfelder: „Warum nicht?“ Höttges: „Mein Trikot ist zur Halbzeit immer klatschnass, aber jetzt ist es fast knochentrocken.“
Währenddessen zeigt auch der Linienrichter wild auf seine Uhr, Hannovers Trainer Helmut „Fiffi“ Kronsbein rennt genervt aufs Feld und sieht Ahlenfelders Zustand: „Schiedsrichter, du bist betrunken!“ sagt er. Doch Höttges solidarisierte sich weiterhin mit dem Schiedsrichter: „Fiffi, geh vom Feld, der Schiedsrichter hat einfach einen Fehler gemacht.“
„Ich war kein Krüppel“
Ahlenfelder gibt seinen Fehler zu und spielt für den Rest der Zeit weiter, als wäre nichts gewesen. Dass er weitere 90 Sekunden überspringt, merkt niemand. Die zweite Halbzeit verläuft ohne weitere Probleme und das Spiel endet 0:0. Unspektakulär. Doch Ahlenfelder verfolgt das Spiel für den Rest seines Lebens. Er geht als der lustigste und trinkfreudigste Schiedsrichter in die Geschichte der Bundesliga ein.
Ahlenfelder hielt 25 Jahre lang an seiner Geschichte fest und gab dann zu, dass die Gans nie existiert hatte. Aber er war nicht völlig betrunken. „Ich war nicht verrückt. Ich hatte etwas getrunken, war aber noch bei klarem Verstand. Laufbereitschaft und Urteilsvermögen – alles war noch da.“ Und die Sache mit dem vorzeitigen Pfiff? „Ich hatte Probleme mit der Uhr und war kurz verwirrt. Doch mein Linienrichter machte mich schnell darauf aufmerksam. Weiter ging es mit dem Schiedsrichterball.“
Höttges findet es schade, dass solche Episoden mittlerweile undenkbar seien. „Das geht heute nicht mehr“, sagt er. „Solche Typen fehlen völlig. Wenn man unser Profiteam nach Ahlenfelder fragen würde, könnte niemand etwas sagen, weil ihn dort niemand kennt.“
