
Kolumne: Blick von Berlin
Vertrauensfrage: Keine Sorge, Olaf Scholz wird definitiv verlieren
In Berlin wird spekuliert: Wird die AfD bei der Vertrauensabstimmung für Olaf Scholz stimmen, um für Chaos zu sorgen? Denkbar, aber sinnlos. Etwas anderes ist entscheidend.
Es klingt seltsam, ist aber wahr: Als Olaf Scholz am 16. Dezember im Bundestag einen Antrag auf Vertrauensbekundung einreicht, will die Kanzlerin das Gegenteil erreichen. Der Bundestag sollte ihm kein Vertrauen aussprechen. Allein diese Niederlage eröffnet den Weg zu den von ihm angekündigten Neuwahlen, denn sie gibt dem Kanzler das Recht, dem Bundespräsidenten die Auflösung des Parlaments vorzuschlagen. Nach dem Grundgesetz ist dies die einzige Möglichkeit, vorgezogene Neuwahlen durchzuführen.
Dass ein Kanzler etwas fordern muss, was er nicht will, macht die Sache an sich schon kompliziert genug, weshalb sie bereits Gegenstand grundsätzlicher Überlegungen des Bundesverfassungsgerichts war. Diesmal scheint die Sache noch verwirrender zu werden, da sich hartnäckig Spekulationen darüber halten, dass die AfD am 16. Dezember für Scholz stimmen und ihm zusammen mit den Stimmen von SPD und Grünen eine Mehrheit verschaffen könnte.
Einzelne AfD-Abgeordnete haben eine solche Absicht bereits angedeutet und sich dabei auf die Weigerung von Scholz berufen, das Taurus-System an die Ukraine auszuliefern. Die AfD insgesamt, so heißt es hier und da, könnte an einem Sieg der Kanzlerin bei der Vertrauensfrage interessiert sein, um den Parlamentsbetrieb insgesamt zu diskreditieren – oder auch, um die politischen Ambitionen der Unionskanzlerin zu vermasseln Kandidat Merz wegen seines Firewall-Diktums. Der Ursprung aller Verdächtigungen gegen die AfD lässt sich am besten so zusammenfassen: Bei ihnen weiß man nie.
Die Stimmen der AfD sind irrelevant
Ist es also realistisch, dass Olaf Scholz mithilfe der Rechtsextremisten im Amt bleibt? Die Antwort ist einfach: Nein.
Der Bundestag hat derzeit 733 Mitglieder. Die für die Vertrauensfrage erforderliche Mehrheit des Kanzlers beträgt 367 Stimmen. SPD und Grüne kommen insgesamt auf 324 Mandate. 43 der 76 AfD-Abgeordneten mussten also für Scholz stimmen – vorausgesetzt, SPD und Grüne stimmten gemeinsam für die Kanzlerin.
Da fängt es an. Die Grünen, die Habeck als Kanzler wollen, haben eigentlich keinen Grund mehr, Scholz zu vertrauen. Und in letzter Zeit versucht er, ihnen keines zu geben. So sagte der SPD-Kanzlerkandidat in seiner Rede zum Wahlkampfauftakt vor wenigen Tagen: „Für viele im Land stehen die Grünen nur für Schikanen, Überforderung und staatliche Bevormundung.“ Solche Höflichkeiten aus dem Mund der Kanzlerin dürften vielen Grünen die Enthaltung bei der Vertrauensfrage erleichtern. Mindestens.
Das hat Geschichte
Auch in der SPD ist ein einheitliches Wahlverhalten nicht unbedingt zu erwarten. Und das liegt nicht daran, dass einige Abgeordnete mit Kanzlerkandidat Scholz uneins sind, sondern daran, dass bei den Sozialdemokraten Doppelloyalität gang und gäbe ist. Bereits 2005, als Gerhard Schröder mit der gleichen Absicht wie Olaf Scholz um die Vertrauensfrage bat, zerfiel die SPD-Fraktion: 105 Abgeordnete, darunter der heutige Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich, stimmten in der namentlichen Abstimmung für Schröder. 140 enthielten sich, darunter Schröder selbst, der heutige SPD-Chef Lars Klingbeil und der Abgeordnete Olaf Scholz.
Wenn sich die SPD-Fraktion im Jahr 2024 erneut so verhält, wird das Verhalten der AfD keine Rolle mehr spielen. Mit anderen Worten: Indem sie Scholz nicht das von ihm geforderte Vertrauen entgegenbringen, können genügend SPD-Abgeordnete dafür sorgen, dass er erreicht, was er wirklich will.
So einfach kann Demokratie sein.
Veröffentlicht in stern 50/2024