Es war der erste bilaterale Besuch der Kanzlerin außerhalb Europas und Amerikas: Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) blieb rund 24 Stunden in Ankara und sprach ausführlich mit dem seit 22 Jahren regierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan.
Merz-Erdogan-Beziehung
Erdoğan sprach Merz bei der gemeinsamen Pressekonferenz am Donnerstagnachmittag als „meinen geschätzten Freund“ an. Auch wenn beide am Donnerstag intensiver als je zuvor miteinander redeten, war es nicht ihre erste Begegnung. Sie hatten sich erst vor zwei Wochen gesehen, bei der Vorstellung des Gaza-Friedensplans im ägyptischen Scharm El-Scheich. Zuvor beim NATO-Gipfel in Den Haag im Sommer, an dessen Rande die Idee entstand, dass Charlotte Merz ihren Mann nach Ankara begleiten könnte.
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Merz und Erdoğan trafen sich erstmals im Mai beim Treffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) in Tirana. Der türkische Staatschef gilt als jemand, der sich akribisch auf Gespräche vorbereitet, manchmal auch aus Zetteln. Beide Männer sprechen mit einem Dolmetscher, daher sind die Gespräche weniger flüssig als bei Merz‘ Gesprächen auf Englisch, etwa mit US-Präsident Donald Trump. Der Händedruck zwischen Merz und Erdoğan war formell; Erst am Ende sah Erdoğan Merz in die Augen und lächelte kurz.
Gaza
Auf der offenen Bühne, bei der Pressekonferenz im Präsidentenpalast, demonstrierten Erdoğan und Merz ihre Uneinigkeit in der Israel- und Gaza-Frage. Erdoğan sprach von einem „Völkermord“ im Gazastreifen und behauptete, die Hamas habe „keine Bomben“. Israel tötete mehr als 60.000 Menschen. Erst am Mittwochabend seien Bomben auf Gaza geworfen worden, sagte Erdoğan. „Deutschland schaut das auch, glaube ich.“
Deutschland werde immer an der Seite Israels stehen, antwortete Merz. Er sprach von einem „stabilisierenden Waffenstillstand in Gaza“ und dankte der Türkei für ihre Beteiligung am Friedensplan. Die Türkei hat maßgeblich zum inzwischen brüchigen Waffenstillstand beigetragen, was Merz zu schätzen weiß. Er ist sich aber auch der Unterstützung der Hamas durch die Türkei und der schwierigen Beziehungen zwischen der Türkei und Israel bewusst. Doch welche Rolle sollten die Mittelmächte Deutschland und Türkei in der Zukunft Israels und der Palästinensergebiete spielen? Berlin hält sich hier zurück.
Laut Merz soll Ankara dabei helfen, die Hamas zu entwaffnen. Notwendig sei auch eine „Regierung ohne Hamas“.
Ukraine
Die Türkei liefert wie Deutschland Waffen an die Ukraine. Anders als Berlin unterstützt Ankara jedoch nicht die Sanktionen gegen Russland, sondern betreibt regen Handel. Merz und Erdoğan tauschten sich wohl auch darüber aus, wie sie den Kurs von US-Präsident Donald Trump gegenüber Moskau und Kiew einschätzen.
Während Merz den „militanten Revisionismus“ Russlands geißelte, verzichtete Erdoğan auf Schuldzuweisungen. Er forderte lediglich ein Ende des Krieges.
Syrien
Die Grenze zwischen der Türkei und Syrien ist fast 900 Kilometer lang. Kaum ein Land hat ein größeres Interesse an der Stabilität Syriens als die Türkei. Deutschland möchte mehr Asylbewerber nach Syrien abschieben. Außenminister Johann Wadephul, der am Donnerstag nach Syrien reiste, versprach der dortigen Regierung weitere Unterstützung beim Wiederaufbau. Später waren in der Hauptstadt Damaskus Gespräche unter anderem mit Interimspräsident Ahmed al-Sharaa und Außenminister Asaad al-Shaibani geplant.
Erdoğan sprach von „großen Fortschritten“ der syrischen Regierung und forderte eine Koordinierung zwischen Deutschland und der Türkei bei der Unterstützung Syriens.
Asylbewerber und Rückkehrer
Merz und seine Koalition, insbesondere die Union, haben sich eine restriktivere Asylpolitik auf die Fahnen geschrieben. Der Kanzler weist stolz auf sinkende Asylbewerberzahlen hin, auch wenn diese bereits vor dem Amtsantritt seiner Regierung registriert wurden. Er weist auch auf eine Zunahme der Rückführungen abgelehnter Asylbewerber hin, auch in die Türkei.
Doch Asylbewerber in Deutschland kommen immer noch an dritter Stelle aus der Türkei, nach denen aus Syrien und Afghanistan. Über 11.000 Türken haben in diesem Jahr (bis September) einen Asylantrag in Deutschland gestellt, über 9.000 davon zum ersten Mal.
Wenn es nach Merz ginge, könnte Deutschland rund 22.560 Menschen, fast zehn Prozent aller ausreisepflichtigen Asylbewerber in Deutschland, in die Türkei abschieben. Dementsprechend setzt er sich für die Beibehaltung des EU-Türkei-Flüchtlingspakts ein, den Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) einst mit Erdoğan vereinbart hatte. Doch die Türkei könnte weitere Entschädigungen verlangen.
Europäische Perspektive
Ankara strebt weiterhin die Vollmitgliedschaft in der EU als „strategisches Ziel“ (Erdoğan) an. Nachdem Merz vorsichtigere Äußerungen machte („der Türkei den Weg nach Europa ebnen“, „Die Türkei steht der EU nahe“), ging Erdoğan in die Offensive. „Die Türkei ist kein Land in Europa oder Asien oder wo auch immer“, sagte er. Es gibt keine Probleme, wenn es um Demokratie geht.
Auf die Frage eines deutschen Reporters nach dem inhaftierten Istanbuler Bürgermeister und Erdoğans Rivalen Ekrem İmamoğlu verwies Erdoğan auf den Rechtsstaat. „Egal wer welches Amt innehat: Im Rechtsstaat darf man das Gesetz nicht mit Füßen treten“, sagte er und sprach von „Korruption und Bestechung“.
Merz sagte wenig später, er wolle „seine Besorgnis darüber zum Ausdruck bringen“, dass die unabhängige Rechtsprechung „nicht unseren Erwartungen entspricht“.
Rüstungskooperation
Deutschland und die Türkei gehören zur NATO. Aufgrund politischer Eskalationen im In- und Ausland ist die Rüstungskooperation jedoch eingeschränkt. Nach dem türkischen Einmarsch in Syrien im Jahr 2016 stoppte die Regierung Merkel die Waffenexporte in die Türkei.
Merkels Nachfolger Olaf Scholz (SPD) nahm dies zurück, Merz führt diesen Kurs fort. Erst am Montag wurde mit deutscher Zustimmung und Beteiligung ein Milliardenvertrag über die Lieferung von 20 neuen Eurofighter-Kampfflugzeugen abgeschlossen.
Merz hat das autoritäre Vorgehen Erdoğans gegenüber der Opposition öffentlich nur sehr zurückhaltend kritisiert. Inwieweit er dies in den internen Gesprächen tat, war zunächst unklar. Als Merz von einem türkischen Reporter zu Fremdenfeindlichkeit und Muslimfeindlichkeit in Europa befragt wurde, verwies er auf die Religionsfreiheit in Deutschland, die für alle gilt und vom Staat garantiert wird.
