Auf einem der Banner blickt ein lachendes Kind den Betrachter an, daneben steht die Aufschrift: „Das Leben ist schön“. Unweit der Frau, die das Banner trägt, steht eine Gruppe junger Leute, manche von ihnen haben verhüllte Gesichter. Auch sie halten Schilder hoch: handbemalte, ausgeschnittene Pappquadrate mit dem Symbol der Venus und der Aufschrift „Schluss mit dem Patriarchat“.
Zwei Seiten stehen sich am Samstagnachmittag in Berlin gegenüber. Die Teilnehmer des 20. „Marsches für das Leben“, einer Demonstration der Lebensrechtsbewegung. Es sind rund 4.500 bis 5.000 Menschen. Und Gegendemonstranten verschiedener feministischer Antifa-Gruppen. Die Lebensrechtsaktivisten stehen auf der einen Seite des Brandenburger Tors, am Tiergarten. Eine große Bühne ist aufgebaut, an kleinen Ständen werden Brezeln verteilt. Der Gegenprotest beginnt seinen Demonstrationszug Unter den Linden.
Seit der jetzige deutsche Rechtsakt vor 29 Jahren geschaffen wurde, wonach Schwangerschaftsabbrüche strenggenommen illegal sind, aber nicht strafbar, wenn sie innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen stattfinden und die Frau sich vorher beraten lässt, schien das Thema an Brisanz verloren zu haben. Einem außenstehenden Beobachter mag es so erscheinen, als sei es der deutschen Gesellschaft im Gegensatz zu den USA gelungen, einen für alle akzeptablen Kompromiss zu finden.
Die FDP feierte
Doch seit einigen Jahren steigen die Teilnehmerzahlen bei jedem „Marsch fürs Leben“ immer weiter an. 2016 zählten die Behörden rund 6000 Menschen, 2023 fand der Marsch erstmals parallel in Berlin und Köln statt. Zugleich forderten Teile der deutschen politischen Landschaft, die bestehenden Abtreibungsparagrafen zu ändern oder abzuschaffen. Die Ampelkoalition schaffte 2022 schließlich den Paragrafen 219a ab. Das Gesetz hatte Ärzten und Medizinern verboten, damit zu werben, dass sie Schwangerschaftsabbrüche anbieten.
Hunderte Menschen protestierten gegen den christlich-fundamentalistischen „Marsch für das Leben“ in #Berlin-Mitte. Einige versuchten, den Marsch zu blockieren. #keinefundis #b2109 pic.twitter.com/J05MMm5srv
— Kinkalitzken 📸 (@kinkalitzken) 21. September 2024
Die FDP feierte den Beschluss mit einem umstrittenen Video. Darin tanzte die Bundestagsabgeordnete Christine Lütke mit Parteikollegen und machte mit der Hand auf Nackenhöhe mehrfach eine „Kopf ab“-Bewegung. Im Hintergrund lief ein Lied der US-Hip-Hop-Gruppe 20 Fingers, dessen Text im Kontext des Videos geradezu makaber wirkte: „Geschrumpfter Mann mit kleinem Penis, ich will dich nicht.“ Nach empörten Reaktionen löschte Lütke das Video.
Dass die Lage aus ihrer Sicht noch schlimmer sein könnte, wissen die Teilnehmer des March for Life. Gleich zu Beginn erwähnt eine Sprecherin die Rechtslage in Großbritannien. Dort sind Abtreibungen bis zur 24. Schwangerschaftswoche legal, in medizinischen Notfällen sogar darüber hinaus. Seit diesem Jahr sind Anti-Abtreibungsproteste in der Nähe von Abtreibungskliniken verboten. Schon die Nähe zu einer Klinik kann als Protest gewertet werden.
„Auch das ungeborene Kind hat ein Recht auf Leben“
Monika Zimmermann ist aus der Nähe von Ulm angereist. „Ich freue mich wahnsinnig, wenn ich Mütter mit Kindern sehe. Oder Schwangere. Das ist schützenswert“, sagt die 57-Jährige auf breitem Schwäbisch und lacht. Wie viele Teilnehmer ist sie gläubige Christin.
„Auch das ungeborene Kind hat ein Recht auf Leben. Statt Frauen zu einer Abtreibung zu ermutigen, sollten sie mehr Beratung und Unterstützung erhalten. Und im Notfall gibt es ja immer noch die Möglichkeit einer Babyklappe.“ Allerdings betont Zimmermann, dass sie Frauen, die eine Abtreibung hatten, nicht mit Schuld belegen dürfe. „Gerade diesen Frauen sollten wir zuhören und sie unterstützen. Viele von ihnen haben nach der Entscheidung ein schlechtes Gewissen.“
Im schwäbischen Raum sei die Haltung zwar einhelliger als anderswo. Aber auch dort sei der Konservativismus auf dem Rückzug, sagt Zimmermann.
„Kinder können sich nicht wehren“
Die große Zahl der Gläubigen auf der Demonstration ist kaum zu übersehen. Viele Fahnen tragen die Aufschrift „Jesus“, manche Teilnehmer halten Kruzifixe in die Höhe oder tragen sie um den Hals. Eine Gruppe junger orthodoxer Christen trägt Ikonen.
Auch Ingrid Faña López ist gläubig. Die 34-Jährige wuchs in der Dominikanischen Republik auf, „einem sehr konservativen Land, in dem Abtreibung völlig illegal ist“, wie sie betont. Weil die wirtschaftliche Lage im Land allerdings schlecht ist, lebt López seit einiger Zeit in Deutschland. Ihre deutsche Begleiterin lernte sie bei einer traditionellen lateinischen Messe kennen.
„Kinder sind extrem verletzliche Wesen und können sich nicht wehren. Deshalb mache ich es für sie“, begründet sie ihre Teilnahme. Am liebsten wäre ihr, wenn auch in Deutschland ein hundertprozentiges Abtreibungsverbot eingeführt würde. „Wenn die Mutter keine Bindung zu ihrem Kind aufbauen kann, weil es im schlimmsten Fall das Ergebnis einer Vergewaltigung ist, braucht sie Unterstützung und gibt das Kind womöglich weg.“
López will zur traditionellen Moral zurückkehren
Das Strafrecht sei allerdings nur ein Teil des Puzzles, so López weiter. Wichtiger sei, dass die Gesellschaft zur traditionellen Moral zurückkehre. „Der Grund, warum Menschen überhaupt Abtreibungen vornehmen lassen, ist, dass sie das Kind als Belastung betrachten, als ein Gewicht, das auf ihren Schultern ruht. Sie würden ihr eigenes Kind aber nie so sehen, wenn sie Sex als einen wertvollen und intimen Akt begreifen würden, der sie für immer an einen anderen Menschen bindet.“ Wer Sex als unverbindliches Vergnügen betrachte, wie dies heute oft der Fall sei, habe keine wirkliche Bindung zu seinem Partner – und damit auch keine Bindung zu seinem Kind.
Am Tiergarten, auf den Wegen, die von der Hauptstraße in den Park führen, haben sich Gegendemonstranten versammelt, die teilweise mit Gewalt daran gehindert werden, sich den Weg zum Pro-Life-Marsch zu bahnen. „Eure Kinder werden wie wir, eure Kinder werden alle schwul sein“, rufen sie. Und: „Schluss mit dem Fundamentalismus aus euren Köpfen!“ Plötzlich führen Polizisten zwei Frauen mitten durch die Pro-Life-Demonstration. „Mein Körper, meine Entscheidung! Erhebt eure Stimme!“, rufen sie. Die Polizisten eskortieren sie zu den anderen Gegendemonstranten. Mit JUNGE FREIHEIT wollen sie nicht sprechen.
Dann setzt sich der „Marsch für das Leben“ in Bewegung. Am Rand der Veranstaltung sammeln sich immer wieder Gegendemonstranten und skandieren. Manchmal zeigen sie sogar den Mittelfinger – und einmal fliegt eine Tomate in Richtung des Marsches. Der Polizei gelingt es noch, die beiden Gruppen auseinander zu halten.
„Abtreibungen hat es immer gegeben und wird es immer geben“
Waldemar aus Lüneburg nimmt seit über zehn Jahren an dem Marsch teil. Als gläubiger Katholik sieht er die aktuelle Rechtslage in Deutschland auch kritisch. „Aber das Strafrecht kann dieses Problem eigentlich nicht lösen“, lautet seine Einschätzung. „Abtreibungen hat es immer gegeben und gibt es auch in Ländern, in denen sie verboten sind.“ Die meisten Frauen, die ihre Schwangerschaft vorzeitig abbrechen, tun dies aus finanziellen Sorgen. „Wir geben mittlerweile Millionen Euro für die Bundeswehr aus. Einen Teil des Geldes könnten wir gut gebrauchen, um alleinerziehenden Müttern zu helfen.“
Es war schön! #MarschfürLeben #K2109 pic.twitter.com/F9SAkijXTQ
— CitizenGO Deutschland (@CitizenGO_DE) 21. September 2024
Besonders beunruhigt ihn, dass Paare, die ein behindertes Kind erwarten, sich häufig für eine Abtreibung entscheiden. „Wir lassen niemanden sterben, der im Laufe seines Lebens krank wird. Warum gibt es dann bei behinderten Kindern so oft Verständnis für eine Abtreibung?“ Waldemar sagt, er sei selbst sehbehindert und daher persönlich von dem Thema betroffen.
„Sie haben keinen Frieden in ihrer Seele“
Nicht weit von ihm entfernt geht Dawid. In seinen Armen hält er eine Bibel und die Ikone eines Heiligen. Dawids Eltern stammen aus Armenien, er selbst ist jedoch in Deutschland aufgewachsen. Seine Familie gehört der russisch-orthodoxen Kirche an.
Er erklärt, dass er sich noch nicht alle Aspekte der Abtreibung im Detail überlegt habe. „Das Beispiel, das oft genannt wird, ist, dass eine Frau nach einer Vergewaltigung abtreiben möchte. Das ist natürlich eine schwierige Frage und ich habe noch keine Antwort darauf. Aber generell sage ich, dass das menschliche Leben heilig ist und geschützt werden muss.“
Dawid erzählt, er sei in einer sehr religiösen Familie aufgewachsen, habe aber im Laufe seiner Kindheit die Orientierung verloren. Mit 13 Jahren habe er angefangen, sich zu fragen, was nach dem Tod passiert. „Mir wurde klar, dass nur Gott dir Identität gibt. Gott ist die Wurzel von allem.“ Dass Gott fehlt, sehe er an den Gegendemonstranten. „Dieses aggressive Verhalten, die erhobenen Mittelfinger und der ganze Tonfall… egal, wer in der Sache recht hat, man sieht, diese Leute sind ruhelos. Sie haben keinen Frieden in ihrer Seele.“
Gegendemonstranten stürmen die Bühne
Als die Demonstration schließlich wieder vor dem Brandenburger Tor ankommt, stürmen einige Gegendemonstranten die dort aufgebaute Bühne. Während der Weihbischof des Erzbistums Berlin und Bischofsvikar für außergerichtliche Eheschließungen, Matthias Heinrich, Kirchenlieder singt, reißt ihm die Gruppe das Mikrofon aus der Hand und schreit: „Mein Körper, meine Entscheidung!“, während die Täglicher Spiegel gemeldet.
Polizisten stürmten auf sie zu und hinderten sie daran, ihr Banner zu entfalten. Insgesamt wurden 17 Personen von den Beamten festgenommen. Eine Person war bereits festgenommen worden, weil sie eine mit Buttersäure gefüllte Flasche auf die Straße geworfen hatte. Ansonsten sei der Tag ruhig verlaufen, betonte die Polizei.
#b2109 Aktivisten stören die Abschlusskundgebung fundamentalistischer Christen in Berlin – das erzürnt die selbsternannten „Lebensschützer“. Mehr zum Anti-Abtreibungsmarsch unter @TspBerlin pic.twitter.com/VkE7Lwb3H0
— Dominik Lenze (@DominikLenze) 21. September 2024