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„Unzipped“, eine Ausstellung über die Rolling Stones im Groninger Museum, kultiviert die Superstars als Ikonen. Leider bleibt der Heiligenschein intakt.
Wer hatte Küchendienst? Installationsansicht der Stones-Gemeinschaftsküche in Edith Grove Foto: Peter Tahl
Der Rock-Mythos scheint für immer weiterzuleben. Was auch immer es genau ist, das Versprechen, dass man radikal machen kann, was man will, die Vorstellung, dass es trotz allem, trotz Lohnarbeit und freiem Markt, so etwas wie umfassende Freiheit im Hier und Jetzt gibt, sie ist unzerstörbar. Daran kann auch die Museumsisierung nichts ändern, sondern sie trägt auch fast 60 Jahre nach „(I can’t get no) Satisfaction“ weiterhin zum Mythos bei.
Die Rolling-Stones-Ausstellung „Unzipped“ läuft nun erstmals auf dem europäischen Festland im Groninger Museum; es zeigt konzentrierte Rock-Mythologie auf vier Etagen. Und das ist ein ideales Beispiel, einfach weil die britische Band The Stones selbst so etwas wie die personifizierte Ewigkeit ist. Eine Band, die von Anfang an dabei war und einfach nicht enden will.
Vor wenigen Tagen veröffentlichten die Stones sogar eine neue Single: „Angry“ ist der Vorgeschmack auf ein für Oktober angekündigtes neues Album. Im Video zum Lied sitzt eine junge Frau auf dem Rücksitz eines Cabriolets, das durch Los Angeles fährt, während historische Live-Aufnahmen der jungen Stones von Bildschirmen auf den Dächern der Stadt flimmern.
60 Jahre Bandgeschichte
„Unzipped“ vereint Objekte aus 60 Jahren Bandgeschichte, alle kuratiert mit einem spürbaren Hang zum Sakralen. Natürlich Gitarren hinter Glas („Keith spielte einen Prototyp dieser Gitarre auf der Steel Wheels Tour, 1989–1990“), Bühnenmodelle der größenwahnsinnigen Stadionshows, Seiten aus Keith Richards‘ Tagebüchern, die vom Autor charmant kommentiert wurden: „Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern. Aber es ist da. Vielleicht sollte ich es lesen.“ Ein Raum ist vollgepackt mit Bühnenoutfits, alles wirkt in der Konzentration bunt, groß und gewollt größenwahnsinnig. Dann natürlich Plattencover, Notizbuchseiten, Ausschnitte aus den zahlreichen Banddokumentationen.
Rolling Stones entpackt Groninger Museum, Groningen/Holland, bis 21. Januar 2024
Ein besonders schönes Feature ist ein Mischpult, an dem Besucher die verschiedenen Audiospuren hoch- und runterziehen können. Isoliert kann man zum Beispiel hören, wie das stets leicht in die Länge gezogene Schlagzeug von Charlie Watts und der Bass von Bill Wyman zusammenkommen. Und welch entscheidende Rolle in allen Songs neben der Stimme von Mick Jagger die Gitarre von Keith Richards spielt. Diese Ecke der Ausstellung sticht auch dadurch hervor, dass sie eine der wenigen ist, die nichts Andachtsvolles zu bieten hat. Man bekommt sozusagen einen Eindruck von der Arbeit am Material.
Ansonsten ist „Unzipped“ eine einzige, ungebrochene Fortsetzung des Mythos der Band. Am unmittelbarsten in der detaillierten Rekonstruktion der, wie man sagt, legendären Band-WG in Edith Grove, einer Ecke des Londoner Stadtteils Chelsea, in der Mick Jagger, Keith Richards und Brian Jones von Herbst 1962 bis Sommer 1963 lebten, mit ungemachten Betten, schön drapierte überquellende Aschenbecher, Essensreste (Plastik) und andere Dinge.
Rock-Reenactment
Die Nachbildung eines Ortes, an dem das Versprechen des Rockmythos sozusagen eine architektonische Entsprechung fand. Und auch der Punkt, an den man sich als normaler Mensch vielleicht am engsten binden kann: die Siff-WG als Keimzelle, in der man alles machen konnte. Oder wie Rich Cohen in seiner Bandbiografie „The Sun, the Moon & the Rolling Stones“ schreibt: Exzess wurde zur „metaphysischen Maxime“ erklärt.
Und die sich von ihrem Elternhaus losgesagt hat, um nach der unvermeidlichen Auflösung der gemeinsamen Wohnung weiterzuziehen. In den meisten Fällen geht man leider nicht auf die Stadionbühne, sondern in ein Büro oder ähnliches. Als Mythenmaschine funktioniert „Unzipped“ wunderbar. Die britische Band arbeitete eng mit den Kuratoren zusammen, als die Ausstellung 2016 erstmals in der Londoner Saatchi Gallery gezeigt wurde. Man muss nicht nach kritischen oder selbstkritischen Momenten suchen, es gibt keine. Die kaum zu übersehende Diskrepanz zwischen Musikgrößen wie „Gimme Shelter“, „Paint It Black“ und „Sympathy for the Devil“ und dem Großteil dessen, was nach 1972, nach „Exile on Main Street“, kam, verschwindet.
„Unzipped“ erzählt die Geschichte der Band als eine einzige, aufsteigende Linie, mit dem Konzert 2016 in Kuba als Höhepunkt, das auf drei großen Bildschirmen im obersten Stockwerk im Triptychonformat gezeigt wird. In der Mischung aus Bewunderung und Fanservice wirkt „Unzipped“ auch ziemlich anachronistisch.
Befreiung und Unterdrückung
Was schade ist, denn die Geschichte der Rolling Stones konzentriert sich auf die befreienden und repressiven Aspekte des Rock-Mythos. In ihrer Studie über Frauenfeindlichkeit und Männlichkeit im Rock „The Sex Revolts“ haben Joy Press und Simon Reynolds auf die Momente der Rock-Rebellion hingewiesen, die im Nachhinein bestenfalls spießig und im schlimmsten Fall gewalttätig waren, und ihren Kampf um das Individuum dargestellt Befreiung wird als phantasmatischer Kampf gegen eigensinnige Frauen, Häuslichkeit und Mutterschaft beschrieben.
Mick Jaggers Androgynie könnte eine befreiende Wirkung auf alle haben, die sich mit den gängigen Männlichkeitsbildern im England der Nachkriegszeit nicht mehr identifizieren konnten. Man kann aber mit Press und Reynolds auch eine andere Diagnose stellen, nämlich dass sich hier „prahlerischer Machismo“ und „selbstverherrlichende Androgynie zu einer Art allumfassendem Narzissmus“ zusammengefunden haben, „als Klammer in der Geschichte von.“ rebellische Rockmusik.“
Und dieser Narzissmus verursacht die Abwertung der Weiblichkeit, die sich durch das gesamte Schaffen der Stones zieht und nicht nur in berüchtigten Songs wie „Under my Thump“ zu finden ist: „Under my Thumb / It’s a Squirmin‘ Dog Who’s Just Had Her Day / Under My.“ Daumen / Ein Mädchen, das gerade sein Verhalten geändert hat.
Fröhliche Crossdresser
Auf dem Cover des Albums „Some Girls“ von 1978 – im Titelsong behauptet Jagger unter anderem: „Schwarze Mädchen wollen einfach die ganze Nacht gefickt werden“ – werden Bilder aller Bandmitglieder von Frauenperücken umrahmt, ergänzt durch kurze gefälschte Biografien auf der Rückseite des Covers.
„Jede dieser fiktiven Frauen bleibt ohne Mann zurück“, schreiben Joy Press und Simon Reynolds. „Offensichtlich die ultimative Schande für die Stones.“ Diese Gleichzeitigkeit von Machismo, Frauenfeindlichkeit und Befreiungsversuch wäre in der Popgeschichte interessanter gewesen als in Vitrinen ausgelegte Gitarren, die Keith Richards mit seinen eigenen Händen berührte.
„Unzipped“ ist in erster Linie eine vollwertige, übertriebene Andachtsdarstellung und macht als solche großen Spaß. Wer jedoch über die mythisch aufgeladenen Versatzstücke und Momente hinaus etwas über die Bedeutung der Band erfahren möchte, muss woanders suchen.
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