Berlin. Pop-Ikone Dieter Bohlen ist einer von Tausenden Menschen in Deutschland, die jährlich an einer Sepsis erkranken. Alle wichtigen Infos.
Ärzte nennen es Sepsis, die einfachen Leute nennen es BlutvergiftungIn Deutschland erkranken Schätzungen zufolge jährlich rund 150.000 Menschen, Tendenz seit Jahren steigend. Manche Studien gehen davon aus, dass die Zahl der Betroffenen deutlich höher ist. Nachdem Schauspieler Till Schweiger im April dieses Jahres auf Mallorca wegen einer Sepsis behandelt werden musste, berichtete nun ein weiterer TV-Star von Erfahrungen mit der gefährlichen Krankheit: Pop-Titan Dieter Bohlen ist aktuell wieder bei der Cast-Show „Deutschland sucht den Superstar“ zu Gast – und geriet in Panik, als er sich vor laufender Kamera einen Kratzer am Arm zuzog.
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Bohlen verlangte sofort „etwas zum Desinfizieren“. Denn, so der Entertainer: „Ich will keine Blutvergiftung bekommen. Das hatte ich vor kurzem, das kann ich nicht nochmal gebrauchen!“ Gegenüber „Bild“ erzählte Bohlen nun, was vor ein paar Monaten passiert war: Beim Tennisspielen hatte er Meniskusverletzung„Die Ärzte machten ein MRT und meinten, das müsse schnell gemacht werden und schickten mich in eine Schnellklinik. Das ging zwar schnell, aber mein Knie wurde immer größer“, sagte Bohlen gegenüber Bild. Bei der Behandlung wurde sein Knie immer wieder punktiert.
Neun Tage lang, so berichtet Dieter Bohlen, habe er „höllische Schmerzen“ gehabt und sich schließlich von seiner Frau Carina Walz wieder in die Klinik bringen lassen. Dort angekommen verschrieben ihm die Ärzte sofort ein Notfalloperation „Weil ich eine Blutvergiftung mit einem CRP-Wert von über 200 hatte“, sagte Bohlen. „Da waren sechs verschiedene Keime in meinem Knie und man wusste nicht, ob man mein Bein überhaupt noch retten konnte.“
Der CRP-Wert ist ein Entzündungsparameter, der im Blut gemessen werden kann. Bei gesunden Menschen gilt ein Wert von bis zu 5 mg/l Blutserum als normal. Werte über 100 mg/l können auf ernsthafte Erkrankungen hinweisen. Bei Bohlen sank der Wert nach 14 Tagen Antibiotika-Einnahme erst langsam wieder. Danach, so „Bild“, habe er drei Monate Reha Nun spielt er zwar wieder Tennis, doch Bohlen scheint sich von dem Schock noch nicht ganz erholt zu haben.
Blutvergiftung – das sind mögliche Symptome
Die Gefahren einer Sepsis, wie sie Dieter Bohlen erlebt hat, sind nicht zu übersehen: 75.000 bis 90.000 Menschen sterben hierzulande jährlich daran. Viele der Todesfälle könnten jedoch verhindert werden, meinen Experten. Wenn Hausärzte, Pflegekräfte, Hebammen, Intensivmediziner und auch Laien sich stärker dafür sensibilisierten. „Sepsis betrifft einfach jeden“, sagt Ruth Hecker, Vorsitzende des Aktionsbündnisses Patientensicherheit und Initiatorin der Kampagne „Deutschland erkennt Sepsis“. „Wenn wir uns über 3.000 Verkehrstote aufregen, warum dann nicht über die Todesfälle durch Sepsis?”, fragt Hecker.
Der typische Symptome Sepsis:
- Fieber und Schüttelfrost
- Verwirrung und Desorientierung
- Charakteränderung
- Schneller Puls, Herzrasen
- Kurzatmigkeit, schnelle Atmung
- Feuchte Haut, Schwitzen
- Schwäche
- Schmerzen, starke Beschwerden
- Extremes Krankheitsgefühl
Nicht nur offene Wunden können zu einer Blutvergiftung führen
Der Intensivmediziner und Sepsis-Experte Matthias Gründling vom Universitätsklinikum Greifswald ist überzeugt: „Es ist nicht allgemein anerkannt, dass Sepsis eine Notfall ist.“ Genau wie ein Herzinfarkt, wie ein Schlaganfall. Noch immer werde eine Sepsis oft nicht oder zu spät erkannt, sagt Thorsten Brenner, Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin am Universitätsklinikum Essen. „Jeder weiß, was ein Herzinfarkt ist. Aber Sepsis? Darüber herrscht oft Wissensmangel.“ Auch die Wissenschaft wisse noch viel zu wenig. „Es ist ein hochkomplexes Feld, auf dem noch viele Fragen offen sind“, sagt Brenner, der seit vielen Jahren dazu forscht.
Um einer Sepsis vorzubeugen, sollte man sich gegen bestimmte Erreger impfen lassen. Dazu gehören Grippe oder bakterielle Pneumokokken. Was wir wissen: Eine Sepsis beginnt immer im Infektion durch einen Krankheitserreger. Meist sind es Bakterien, es können aber auch Viren, Pilze oder Parasiten sein. Anders als viele glauben, braucht es für eine Blutvergiftung weder eine offene Wunde, noch den berühmten roten Strich.
Jede Infektion kann zu einer Sepsis führen, egal ob es sich um eine Harnwegsinfektion, eine Lungenentzündung oder eine Grippe handelt. Der Körper reagiert auf diese Infektion Immunsystem nicht auf die übliche Weise, sondern zunächst überreagiert es. „Die Abwehrreaktion, die eine Infektion an Ort und Stelle bekämpfen soll, wird plötzlich systemisch“, sagt Brenner. Das Immunsystem greift eigene Organe an, auch weit entfernt vom Entzündungsherd. „Warum das so ist? Das wissen wir nicht.“
Sepsis-Patienten: Nieren, Leber und Lunge versagen
Julia Schiedermaier war selbst betroffen. An einem Wochenende im Februar 2019 begann alles mit Gliederschmerzen und Schnupfen. Die Mutter zweier Kinder fühlte sich schlapp, hatte Atembeschwerden und Schmerzen unter dem Brustkorb. Der Hausarzt, zu dem sie sich schleppte, vermutete eine Grippe. Im Februar ist Grippesaison, und das Coronavirus war damals noch unbekannt.
„Es fühlte sich tatsächlich wie eine Grippe an“, sagte Schiedermaier später. „Dieses extreme Krankheitsgefühl, Fieber, Kopfschmerzen.“ Doch es war keine Grippe, sondern eine Sepsis. Das Immunsystem der damals 40-Jährigen griff ihre Organe an. Die Ärzte sagten später, ihre Überlebenschancen hätte, wenn überhaupt, zehn Prozent betragen.
Julia Schiedermaiers Nieren-, Leber- und Lungenversagen. Toxischer Schockdas Endstadium einer Blutvergiftung. Die Ärzte in der Münchner Klinik entdeckten einen Eiterhaufen auf dem Brustfell – der Haut, die die Lunge bedeckt. „Eineinhalb Liter Eiter haben sie abgesaugt“, sagt Schiedermaier. Daher die Atemnot und die Schmerzen.
Nach der Operation wussten die Ärzte nicht, ob sie überleben würde oder ob ihr Gehirn schwere Schäden erlitten hatte. Sie verlegten die Patientin in ein künstliches Koma und von Stunde zu Stunde wurde entschieden, was zu tun sei. Sie passten die Dosierung an und wechselten die Medikamente.
Zahl der Sepsisfälle steigt seit Jahren
„Das ist die größte Herausforderung„Wichtig ist zu wissen, in welcher Phase der Erkrankung sich der Patient befindet“, sagt Intensivmediziner Gründling. Das Immunsystem reagiere zu Beginn über, es gebe aber auch Phasen, in denen es nicht ausreichend reagiere – „oder in denen beides parallel auftritt.“ Je nach Erreger und Phase der Sepsis müsse die Therapie sehr fein abgestimmt werden.
Die Krankenhaussterblichkeit bei Sepsis liegt in Deutschland seit Jahren bei rund 40 Prozent, insbesondere bei älteren Menschen und solchen mit Vorerkrankungen wie Diabetes, Krebs, Lungen- oder Nierenerkrankungen. hohes Risiko sterben. „Zum einen haben wir hier große Fortschritte gemacht“, sagt Frank Brunkhorst, Professor für Klinische Sepsisforschung am Universitätsklinikum Jena und Generalsekretär der Deutschen Sepsis-Gesellschaft. Vor 30 Jahren starben noch 60 Prozent der Betroffenen.
Gleichzeitig steigt die Zahl der Betroffenen seit Jahren. Das liegt laut Brunkhorst auch daran, dass medizinische Eingriffe kaum noch Altersgrenzen kennen. „Heute werden 85-Jährige am Herzen operiert. Sie haben dadurch eine große Wundfläche und aufgrund ihres hohen Alters eine eingeschränkte Verteidigung„Bei diesen Patienten muss vor einer solchen Operation immer das Risiko einer Sepsis bedacht werden.“
Krankenhäuser müssen die Behandlung neu überdenken
Bedenken Sie das Risiko einer Sepsis. Diesem Leitsatz folgt die Universitätsklinik Greifswald seit mehr als zehn Jahren – und konnte so die Sepsis-Sterblichkeitsrate im Klinikum um sieben bis zehn Prozent unter den Durchschnitt senken. Unter Gründlings Führung wurde ein Sepsis-Dialog Eine Sepsis-Nurse wurde ausgebildet und das Personal geschult, sowohl Ärzte als auch Pflegekräfte. Jeder trägt eine Art Karteikarte mit sich, die ihn daran erinnert, dass eine Sepsis immer eine Option sein kann.
„Wir behalten den Verdacht auf Sepsis so lange im Hinterkopf, bis er mithilfe von Laboruntersuchungen ausgeschlossen werden kann. Das gilt auch, wenn jemand mit Schlaganfallsymptomen zu uns kommt“, sagt Gründling. Die Klinik arbeitet zudem an einer deutlich schnelleren Diagnose. Nichts ist bei Sepsis so entscheidend wie die frühzeitige Identifizierung des Erregers. Im Rahmen einer Studie erweiterten Gründling und sein Team diese mikrobiologische Überwachung Blut auf 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Künftig soll eine 24-Stunden-Überwachung zum Standard werden. „Damit wären wir die Ersten in Deutschland“, sagt Gründling.
Sepsis-Patientin verliert Bein – Auslöser bleibt unklar
Der Greifswalder Ansatz sei in Deutschland nicht weit verbreitet, sagt Gründling. Das könnte auch mit dem Stigma zusammenhängen, das der Sepsis anhaftet. Schließlich könnte es etwas mit mangelnder Hygiene zu tun haben, mit multiresistente Keime„Damit will kein Krankenhaus in Verbindung gebracht werden“, sagt Gründling. „Bei Vorträgen höre ich oft, wie Ärzte sagen: ‚Sepsis ist bei uns kein so großes Problem.'“ Auch auf dem Totenschein taucht die Diagnose Sepsis meist nicht auf. Als Todesursache wird etwa eine Lungenentzündung angegeben.
Julia Schiedermaier überlebte die Sepsis, doch ihr Leben ist heute anders. Ihre Beine wurden bis zur Mitte der Wade amputiert, ebenso alle Fingerspitzen. Laufen mit Prothesen sie lernt gerade. „Wenn ich gewusst hätte, was mich nach dem Aufwachen aus dem Koma erwartet, hätte ich wahrscheinlich aufgegeben“, sagt Schiedermaier.
Einmal, sagt sie, habe es in der Klinik diesen Moment gegeben. „Ich dachte, wenn ihr jetzt die Schläuche zieht, ist es vorbei. Aber nicht einmal das konnte ich. Ich war viel zu schwach.“ Was die auslösen Was die Blutvergiftung ausgelöst hat, lässt sich nicht sagen. Ärzte vermuten eine Kombination aus einer unbehandelten Streptokokken-Infektion und einer einsetzenden Grippe.