Der Präsident kam am Sonntag persönlich zur Trauerfeier. Drei Särge waren aufgereiht, drei Crewmitglieder sind beim Flugzeugabsturz gestorben. Ilham Alijew verneigte sich vor den Toten, tröstete die Hinterbliebenen. Der Herrscher Aserbaidschans trauert öffentlich mit seinem Volk. Und er kochte offenbar vor Wut.
Noch am selben Tag gab er der staatlichen Agentur Azertac ein Interview. Im Traueranzug stand er vor der Kamera, sprach über russische Vertuschung und die wahren Ursachen des Absturzes am Mittwoch der vergangenen Woche. Die Embraer 190 der aserbaidschanischen Fluggesellschaft Azal hatte die russische Stadt Grosny angeflogen, als sie durch Beschuss schwer beschädigt wurde. Die Crew konnte noch abdrehen, schaffte es über das Kaspische Meer für eine Notlandung in Kasachstan. Doch 38 Menschen an Bord starben.
Gerüchte aus Moskau nannte Alijew „dumm und unehrlich“
Die Fakten seien offensichtlich, sagte Alijew nun vor der Kamera. Der Rumpf des Flugzeugs sei mit Löchern übersät – ausgeschlossen, dass ein Vogelschwarm sie verursacht haben könnte. Es gebe zudem Überlebende, Augenzeugen, so Alijew. Sie hätten von Schrapnellen berichtet, die das Flugzeug durchbohrten und die Insassen verletzten.
Von Vogelschlag hatte die russische Luftfahrbehörde Rosawiazija anfangs gesprochen. Auch das Gerücht, dass eine Gasflasche an Bord explodiert sein könnte, nannte Alijew nun „dumm und unehrlich“. Die russische Seite habe die Sache von Anfang an vertuschen wollen. Sein Interview gab der aserbaidschanische Machthaber einen Tag, nachdem Wladimir Putin sich am Telefon für den „tragischen Vorfall im russischen Luftraum“ entschuldigt hatte.
Putin habe den Hinterbliebenen noch einmal sein Beileid ausgedrückt, so steht es in der Kreml-Mitteilung vom Samstag. Zur selben Zeit, als die Passagiermaschine Grosny anflog, sei die Stadt von ukrainischen Drohnen angegriffen worden, so Putin. Das russische Luftverteidigungssystem habe diese Angriffe abgewehrt. Eine Entschuldigung also, eine für Putin recht weitreichende Erklärung sogar, aber kein echtes Schuldeingeständnis.
Putin will Baku offenbar nicht allzu sehr verärgern
Alijew reichte das offenbar nicht. „Leider hörten wir in den ersten drei Tagen von Russland nichts außer einigen absurden Theorien“, sagte er am Sonntag. Der Kreml hatte sich anfangs gar nicht äußern wollen, der Absturz werde schließlich noch untersucht. Dass Putin am Samstag dann doch recht konkret wurde, beweist, dass er Alijew nicht allzu sehr verärgern will.
Seine Reaktion zeigt nicht nur eine Machtverschiebung zugunsten von Baku. Sie zeigt auch, dass sich die russischen Interessen verändert haben. Putin ist angewiesen auf Aserbaidschan, das vor dem Krieg in der Ukraine nie sein wichtigster Partner im Südkaukasus gewesen ist. Inzwischen aber braucht Putin Alijews Verbindungen, Aserbaidschans Transportwege, seine wirtschaftliche Kraft.
Sichtbar geworden ist dieses veränderte Verhältnis spätestens im Herbst 2023: Damals eroberte Alijews Armee die Region Bergkarabach von den Armeniern zurück. Im Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien hatte Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion eher auf armenischer Seite gestanden, hatte Eriwan unterstützt und nicht Baku. Es ging Moskau um politischen Einfluss in der Region und darum, Schiedsrichter im Konflikt um Bergkarabach zu sein.
Aserbaidschan ist wirtschaftlich und militärisch stark
Moskau schickte nach Alijews Sieg dann zwar noch Friedenstruppen, angeblich, um die armenische Bevölkerung zu schützen. Oft bedeutet so ein Schritt aber auch, dass die russischen Soldaten viele Jahre bleiben, wie in Abchasien, Südossetien und Transnistrien, um diese Regionen für den Kreml zu kontrollieren. Aus Bergkarabach zogen sie allerdings unerwartet schnell wieder ab und überließen Aserbaidschan das Feld. Für viele Armenier war das ein weiterer Grund, sich von Moskau loszusagen.
Sicher erschwert sein Krieg in der Ukraine es Putin, andernorts militärisch zu intervenieren, in Bergkarabach, in Syrien. Dazu kommt aber auch, dass er jetzt etwas anderes dringender braucht als politischen Einfluss: neue Handelspartner und Routen, um westliche Sanktionen zu umgehen. Das energiereiche Aserbaidschan ist das größte, das wirtschaftlich und militärisch stärkste Land im Südkaukasus. Die Machtverhältnisse haben sich verschoben, und Putin reagiert darauf.
Erst kürzlich hat etwa der russische Staatskonzern Gazprom angekündigt, die Partnerschaft mit seinem aserbaidschanischen Pendant Socar auszubauen. Alijew kauft russisches Gas für die heimische Nachfrage. Das aserbaidschanische Gas spart er so im Winter auf, um es nach Europa zu exportieren. Alijew profitiert davon, dass er sich den westlichen Sanktionen gegen Russland nicht angeschlossen hat und sein eigenes Gas im Westen gleichzeitig stärker nachgefragt wird. Russland braucht ohnehin jetzt jeden Abnehmer.
Ein Landweg bis nach Iran wäre für Russland wichtig
Noch wichtiger als das Gas ist Putin aber etwas, das er fast immer anspricht, wenn er Alijew trifft: die Nord-Süd-Verbindung. Aserbaidschan grenzt an Iran, und Putin wünscht sich einen Landweg von Moskau bis Teheran und darüber hinaus. Dabei spielt ein spezieller Korridor, um den es im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan auch immer geht, eine besondere Rolle. Er führt durch Armenien und verbindet Baku mit der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan. Diese grenzt sowohl an die Türkei als auch an Iran. Wenn es Aserbaidschan gelingt, diesen Korridor durch armenisches Gebiet zu ziehen, hätte Russland davon nur Vorteile. Womöglich hat auch das eine Rolle gespielt, als Putin seine Soldaten aus Bergkarabach abzog.
Putin will also einiges von Alijew, der Absturz der Azal-Maschine ist für ihn ein echtes Unglück. Alijew hat am Sonntag verkündet, dass die Flugverbindungen zu zehn russischen Städten nun eingestellt seien. Und er hat seine drei Forderungen wiederholt: eine Entschuldigung aus Moskau, ein Schuldeingeständnis und dass die Verantwortlichen gefunden und bestraft werden. Am Samstag sei nur die erste Bedingung erfüllt worden, sagte Alijew.
Er hat nun Ermittlungen beauftragt, Fragen gestellt: Wann genau wurde auf das Flugzeug geschossen? Warum ist es nicht auf dem nächstgelegenen Flughafen notgelandet? Wurde es absichtlich über das Meer nach Aktau in Kasachstan geschickt? Die Untersuchung durch das Zwischenstaatliche Luftfahrtkomitee, die Moskau vorgeschlagen hatte, lehnte der aserbaidschanische Präsident ab. Zwar sind sowohl Aserbaidschan als auch Kasachstan Mitglied der gemeinsamen Organisation vieler Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Sie werde aber von russischem Personal geleitet, so Alijew, und sei daher nicht objektiv genug.