Der Mann, dessen Handeln Friedrich Merz zu der Aussage veranlasste, dass die Maßnahme nun „endlich voll“ sei, saß am Donnerstagmorgen lustlos im Gerichtssaal und gähnte ununterbrochen. Der 28-jährige Afghane gähnt, egal, was der Oberstaatsanwalt gerade liest: Als es heißt, er habe einen Lehrer zu Boden gestoßen. Als es hieß, dass ihm Drohung vorgeworfen wurde. Als es heißt, er habe einen zweijährigen Jungen mit einem Messer erstochen, seien einige der Stiche auf der anderen Seite des Halses herausgekommen.
Enamullah O. ist der Angeklagte in einem Sicherungsverfahren, das am Donnerstag vor dem Landgericht Aschaffenburg unter hohen Sicherheitsvorkehrungen begann. Der daraufhin ausreisepflichtige afghanische Asylbewerber soll am 22. Januar 2025 zwei Menschen getötet und drei zum Teil schwer verletzt haben. Die Tat sorgte bundesweit für Entsetzen, wenige Wochen vor der Bundestagswahl wurde Migration zum beherrschenden Wahlkampfthema. Merz, damals Kanzlerkandidat der CDU, erklärte, die Asylpolitik der vergangenen zehn Jahre sei gescheitert.
O. hat dunkle, kurze Haare und Schatten unter den Augen, die es schwierig machen zu erkennen, ob er wirklich versteht, worum es an diesem Tag geht. Hinweise auf eine politisch motivierte Tat fanden die Ermittler nicht. Einem Bericht zufolge leidet O. an paranoider Schizophrenie, die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass er zur Tatzeit geschäftsunfähig war. Sie verlangt eine dauerhafte Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung, worüber das Gericht entscheiden wird.
Der Angeklagte spricht von einem „Film im Gehirn“
Sein Verteidiger erklärt gleich zu Beginn: Leider sei das Gähnen „ein Ausdruck seiner Krankheit“. Auch jetzt noch kommt es in der Einrichtung, in der er vorübergehend untergebracht ist, vor, dass er Toilettenpapier isst. Die Tat im Januar sei „die Äußerung eines Verrückten“ gewesen. Dass O. der Täter war, bestehe „völlig außer Frage“. Warum er die Tat begangen habe, „werden wir nicht beantworten können“.
An diesem Morgen waren zwei Lehrer mit fünf Kindern im Schöntalpark in Aschaffenburg unterwegs. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft griff O. sie mit einem Messer an. Demnach tötete er den zweijährigen Jungen und einen 41-jährigen Passanten, der den Kindern helfen wollte. Er stieß eine Lehrerin zu Boden, die ihn von den Kindern fernhalten wollte, und sie brach sich das Handgelenk. Er verletzte ein zweijähriges Mädchen schwer, sowie einen weiteren Passanten, damals 72 Jahre alt, der ebenfalls die Kinder schützen wollte. Später erzählte er einem Experten, dass er im Park so etwas wie einen „Film im Gehirn“ habe. Er benutzte das Messer aus Angst, dass ihn jemand töten wollte.
Schnell wird klar, dass mit O. „etwas nicht stimmt“, wie es der am Donnerstag als Zeuge geladene Kriminalhauptkommissar ausdrückte. O. antwortet nicht klar, wann und wo er geboren wurde. Anscheinend kann er nicht sagen, welche Medikamente er einnimmt. Während die Jury Bilder des Körpers des Zweijährigen auf eine Leinwand projiziert, blickt er mit offenem, aber regungslosem Mund darauf.
Die offene Frage der politischen Verantwortung
Am Morgen saß auch der Vater des zweijährigen Mädchens, das O. schwer verletzte, im Flur. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft zeigte das Mädchen Wochen nach dem Angriff Anzeichen einer posttraumatischen Störung und befindet sich weiterhin in psychologischer Betreuung. Der Vater ist einer von mehreren Nebenklägern, die von fünf Anwälten vertreten werden. Er schüttelt immer wieder den Kopf, schaut den Angeklagten an, blickt auf den Boden, hört die gestelzten Amtsworte, mit denen der Oberstaatsanwalt die Länge der Messerstiche beschreibt, die seine Tochter getroffen haben. Er kommt nach seiner Mittagspause nicht zurück.
Im Januar, zwei Tage nach der Tat, stellte Merz ein Fünf-Punkte-Programm für eine strengere Migrationspolitik vor, das unter anderem dauerhafte Grenzkontrollen und Zurückweisungen an der Grenze vorsah. Daraufhin erhielt ein entsprechender Antrag eine Mehrheit im Bundestag – erstmals mit den Stimmen der AfD, was die teils rechtsextreme Partei jubeln ließ, der Union scharfe Kritik einbrachte und der empörten Linken Auftrieb gab. Eine vorgeschlagene Gesetzesänderung scheiterte jedoch wenige Tage später.
Nach Angaben bayerischer Behörden reiste O. im November 2022 nach Deutschland ein. Im Juni 2023 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) seinen Asylantrag ab, weil Bulgarien, das EU-Land, in dem er erstmals registriert war, zuständig sei. Über diesen Umstand wurde die bayerische Ausländerbehörde offenbar erst sechs Tage vor der geplanten Abschiebung informiert – eine Rückführung nach Bulgarien sei in dieser kurzen Zeit nach Angaben von Innenminister Joachim Herrmann (CSU) nicht möglich gewesen. Da die Frist abgelaufen war, war dann der Bund zuständig. Im Dezember 2024 gab der Tatverdächtige an, das Land freiwillig verlassen zu wollen, im Januar verfügte er jedoch noch nicht über die erforderlichen Papiere des afghanischen Generalkonsulats. Nach der Tat gaben sich Bund und Länder gegenseitig die Schuld.
Legen Sie einem Mitbewohner ein Messer an den Hals
Enamullah O. war bereits vor der Tat in Aschaffenburg aufgefallen. Er wurde im Juni 2024 wegen vorsätzlicher Körperverletzung rechtskräftig verurteilt, verbüßte jedoch nicht die Ersatzfreiheitsstrafe. Viele frühere Verfahren gegen O., oft wegen Beleidigung und Körperverletzung, wurden eingestellt, meist aus Mangel an Beweisen. Mehrfach fiel er im Frühjahr und Sommer 2024 unter anderem wegen Angriffen auf Polizisten auf. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft wäre in keinem der Fälle ein Haftbefehl verhältnismäßig gewesen und es lägen keine Voraussetzungen für eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus vor. Bei diversen Kurzzeitaufenthalten in Kliniken kamen die Ärzte stets zu dem Schluss, dass von O. keine „Gefährdung für sich selbst oder andere“ ausgegangen sei.
Im laufenden Verfahren geht es auch um einen Vorfall, der sich am 29. August 2024 ereignet haben soll. O. lebte in einer Asylunterkunft in Alzenau. An diesem Abend soll er eine 44-jährige Mitbewohnerin gewürgt und ihr mehrmals ein Messer an den Hals gehalten haben. Die Frau wurde leicht verletzt und mehrere Mitbewohner konnten O. überwältigen. Am Donnerstag bestritt O. vor Gericht den Einsatz eines Messers.
Auch das Landgericht Aschaffenburg wird sich Ende Oktober mit diesem Verbrechen befassen: Einem Polizisten wird vorgeworfen, nach diesem Vorfall keine Ermittlungen gegen O. eingeleitet zu haben. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Strafbehinderung im Amt vor – im Januar hatte die Behörde keine Kenntnis von der mutmaßlichen Straftat. Andernfalls hätten die Behörden damals zumindest prüfen können, ob die Haft- oder Unterbringungsbedingungen für O. neu beurteilt werden müssten.