Argentiniens libertärer Präsident will mit radikalen Reformen für einen wirtschaftlichen Aufschwung sorgen. Ein schmerzhafter Weg, der für viele Argentinier derzeit zu deutlichen Einschnitten führt. Ökonom Philipp Bagus erklärt, welche Erfolgsaussichten Mileis Pläne haben.
Seit Dezember ist der Libertäre Javier Milei Präsident Argentiniens. Er hat dem hoch verschuldeten Land einen harten Reformkurs aufgezwungen, der so wenig Staat und so viel Markt wie möglich vorsieht. Das Land steckt derzeit in einer Wirtschaftskrise, die Armutsrate ist in diesem Jahr auf den höchsten Stand seit 20 Jahren gestiegen. Das führt zu Protesten, jede Woche demonstrieren Rentner vor dem Parlament.
Philipp Bagus (43), Wirtschaftsprofessor an der Universidad Rey Juan Carlos in Madrid, kennt den radikalen, marktliberalen Präsidenten aus gemeinsamen akademischen Diskussionen und hat nun ein Buch über ihn geschrieben. Im Interview mit WELT erklärt er Mileis Politik.
WELT: Herr Bagus, Ihr Buch „Die Ära Javier Milei“ erscheint bald. Wann und wo haben Sie den argentinischen Präsidenten getroffen?
Philipp Bagus: In der akademischen Welt der Österreichischen Schule war Javier Milei als Ökonom schon lange bekannt. Ich lud ihn 2021 zu meiner Vorlesung ein und er nahm via Zoom teil. Er erklärte mir und den Studierenden auch, warum er in die Politik gegangen ist. Das ist unter Libertären tatsächlich umstritten, denn sie gehen davon aus, dass man in der Politik die Ideen der Freiheit zu leicht verrät. Seitdem stehen wir in persönlichem Kontakt und tauschen uns aus.
WELT: Und wie erklärte Milei seinen Weg in die Politik?
Beutel: Erstens, weil man den Kulturkampf der Ideen führen kann, wie man will, aber man braucht auch jemanden auf dem Feld, der das dann umsetzen kann. Es gibt zwar auch viele Anhänger und Fans auf den Fußballtribünen, aber am Ende ist es wichtig, dass es jemanden gibt, der die Tore schießt. Zudem wurde er in Argentinien von den damals herrschenden Peronisten zunehmend zensiert. Er erhielt daraufhin weniger Medieneinladungen, einige seiner Mitstreiter wurden komplett boykottiert. Also beschloss er, in die Politik zu gehen.
WELT: Kommen wir zur aktuellen Politik. Unter Milei ist die Armutsrate gestiegen und die Inflation gesunken. Glauben Sie, dass er Argentinien tatsächlich in bessere Zeiten führen kann?
Beutel: Zunächst einmal hat Milei vor den Wahlen angekündigt, welchen Weg er einschlagen will. Er kündigte massive Kürzungen, Sparmaßnahmen und Privatisierungen an, die der Bevölkerung zunächst Opfer abverlangen würden. Er sagte die Wahrheit: Es werde zunächst sehr schwer werden, aber diese Krise werde sich – anders als die vorherige – auszahlen, wenn sie vorbei sei. Dass es Licht am Ende des Tunnels geben werde. Milei hat es offenbar geschafft, die Mentalität in der argentinischen Gesellschaft zu ändern, denn viele Menschen hatten den Eindruck, dass es so nicht weitergehen könne.
WELT: Wie bewerten Sie seine ersten Monate im Amt?
Beutel: Sein größter Erfolg ist, dass er eine Hyperinflation vermieden hat. Die monatliche Inflation ist von 25 Prozent auf vier Prozent gesunken. Der Staatshaushalt erwirtschaftet erstmals seit Jahren Überschüsse. Auch die Armutsquote ist zuletzt erstmals seit Monaten leicht gesunken. Die Staatsausgaben wurden real um 35 Prozent gesenkt, ohne dass es zu einer Revolution kam. Erreicht wurde dies etwa durch die Reduzierung der Zahl der Ministerien von 22 auf neun. Man stelle sich nur vor, was in Deutschland passieren würde, wenn die Regierung die Haushaltsausgaben um 35 Prozent kürzen würde. Milei hat seinen schmerzhaften Weg im Vorfeld klar angekündigt und erklärt. Die Argentinier haben diesen Weg verstanden. Und deshalb sind seine Zustimmungswerte noch immer so hoch wie bei seinem Amtsantritt.
WELT: Was ist die Gefahr dieses Kurses?
Beutel: Die Frage ist natürlich, was passiert, wenn kein Licht am Ende des Tunnels zu sehen ist. Wenn die erhoffte wirtschaftliche Erholung ausbleibt. Der Peronismus, jetzt in der Opposition, weiß, wenn Milei Erfolg hat, dann ist das für lange Zeit das Ende seiner Machtoptionen. Die Opposition tut deshalb derzeit alles, um einen wirtschaftlichen Erfolg zu verhindern. Aber wenn Milei Erfolg hat, wäre das ein Wendepunkt. Dann wird dieser Weg auch in anderen Ländern populär. Deshalb gibt es in linksliberalen Medien und innerhalb der linken Politik so viel Widerstand gegen ihn, weil er deren Macht in Frage stellt und herausfordert. Für mich ist die erste Wahl eines Libertären zum Präsidenten deshalb auch von weltpolitischer Bedeutung.
WELT: In den Medien wird Milei oft auf eine Stufe mit Rechtspopulisten wie Brasiliens Jair Bolsonaro oder Donald Trump gestellt. Manche befürchten gar eine Diktatur. Wie schätzen Sie das ein?
Beutel: Als Libertärer vertritt Milei das genaue Gegenteil einer Diktatur. Er verteidigt die Grundrechte des Einzelnen gegen die Einmischung oder Übergriffe des Staates. Als Anarchokapitalist unterstützt er sogar die Version eines Nullstaates, der das genaue Gegenteil einer Diktatur ist. In der Praxis als Präsident ist er ein Minimalstaatsbefürworter, der den Staat auf seine Grundfunktionen wie die Bereitstellung eines Rechtssystems oder Sicherheit reduzieren möchte. Für alles andere ist die Zivilgesellschaft da. Was die Ähnlichkeiten mit Bolsonaro und Trump betrifft, so zeigen sich diese vor allem in der Außenpolitik – in ihren proamerikanischen und proisraelischen Positionen – oder in ihrer grundsätzlichen Kritik am Sozialismus. Es gibt aber auch große Unterschiede, denn als Wirtschaftsprofessor verfügt Milei über akademisches Know-how mit detailliertem Wissen. Viele linke Kritiker kennen die Prinzipien libertärer Politik nicht und stecken ihn deshalb in die Schublade des Rechtspopulisten. Dies ist ein Versuch, ihn gezielt zu diffamieren und zu stigmatisieren.
WELT: Warum interessieren sich so viele Menschen für die Figur Milei und seine Ideen?
Beutel: In Argentinien sind die Probleme der westlichen Welt noch ausgeprägter. Überschuldung, Inflation, ein überforderter Sozialstaat, ein Rentensystem, das nicht mehr funktioniert. Diese Probleme müssen auch alle anderen Länder lösen. Wenn Milei mit seinem Ansatz auch in diesem Argentinien Erfolg hat, dann wird das die Welt verändern. Der Westen wird sich diesen liberalen Ideen zuwenden. Und das wird zu einem Mentalitätswandel führen. Aus Unwissenheit und politischem Interesse werden in den Medien gezielt viele falsche Informationen über ihn und seine politischen Ansätze verbreitet. In meinem Buch erkläre ich, wie eine Person mit solch extremen Ideen im streng peronistischen Argentinien gewählt werden konnte und welche Vorstellungen sie hat.
WELT: Würden Sie der FDP raten, Mileis Vorstellungen zu folgen, um in Deutschland aus dem schwierigen Fahrwasser herauszukommen?
Beutel: Milei ist natürlich ein charismatischer und guter Kommunikator, was nicht jeder kann. Er kann die Ideen der Österreichischen Schule so aufschlüsseln, dass sie jeder verstehen kann, ohne sie zu verwässern. Deshalb ist er bei jungen Argentiniern so beliebt. Früher trugen junge Leute Che-Guevara-T-Shirts, heute tragen sie Milei-T-Shirts. Die Ideen der Freiheit können für rebellische junge Leute besonders interessant sein.
Tobias Buyer ist Lateinamerika-Korrespondent. Seit 2009 berichtet er im Auftrag von WELT über die Entwicklungen in der Region.