Nach einer massiv antiisraelischen Entscheidung der linken Jugend und Drohungen gegen Kritiker haben sich 17 linke Bundestagsabgeordnete in einem WELT vorliegenden Brief an den Parteivorstand gewandt. Sie fordern, dass jetzt „klare Grenzen“ gezogen werden.
Der Beschluss der Linken Jugend, in dem ein „kolonialer und rassistischer Charakter des israelischen Staatsprojekts (…) von seinen Anfängen bis heute“ behauptet wird, stößt in Teilen der Linkspartei auf heftigen Widerstand. WELT liegt ein interner Brief von 17 Linken-Bundestagsabgeordneten vor, der am Mittwochabend an die Parteivorsitzenden Ines Schwerdtner und Jan van Aken sowie die Bundestagsfraktionsvorsitzenden Heidi Reichinnek und Sören Pellmann verschickt wurde.
„Nach der Beschlussfassung des Antrags ‚Nie wieder zu einem Völkermord schweigen‘ auf dem 18. Bundeskongress der Linken Jugendsolide am vergangenen Wochenende und nach den Berichten über den Tagungsverlauf aus dem Kreis der teilnehmenden Genossen dürfen und können wir als Linkspartei nicht einfach zur Tagesordnung zurückkehren“, heißt es. „Sowohl die Entscheidung in dieser Angelegenheit als auch die Hinweise auf Einschüchterungen und Drohungen gegen Delegierte sind inakzeptabel. Offenbar ist in unserer Partei etwas verrutscht.“
Unterzeichnet wurde der Brief unter anderem von den ehemaligen Fraktionsvorsitzenden Dietmar Bartsch und Gregor Gysi, der ehemaligen stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Caren Lay, dem Bundestagsvizepräsidenten und ehemaligen Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow, dem nordrhein-westfälischen Landesvorsitzenden Sascha Wagner und der sachsen-anhaltischen Landesvorsitzenden Janina Böttger.
Weiter heißt es: „Als Linke treten wir in unserem Programm und mit unseren Beschlüssen für eine Zwei-Staaten-Lösung im Nahen Osten als wichtige Grundlage für Frieden und eine gerechte Regelung ein. Mit seiner Entscheidung hat sich der Jugendverband nun ausdrücklich von einer solchen Position verabschiedet und einige seiner Delegierten haben sich durch ihr Handeln in der politischen Kultur außerhalb des Konsenses unserer Partei gestellt.“
Die Unterzeichner „fordern als Abgeordnete vom Parteivorstand politische Verlässlichkeit und Klarheit, damit weder diese politische Ausrichtung noch diese politische Kultur unangefochten in der Partei geduldet wird und auf die Fraktion übergreift.“ Die Führungsgremien von Partei und Fraktion müssen „deutlich hörbare und deutlich spürbare Grenzen entlang des parteiintern mühsam erarbeiteten Konsenses ziehen.“ Die Linksfraktion hat insgesamt 64 Mitglieder.
Der „entwickelte Konsens“ bezieht sich auf einen Beschluss des Bundesparteitags im Oktober 2024. „Die Ungerechtigkeit der Besetzung der palästinensischen Gebiete ist niemals eine Rechtfertigung für den menschenverachtenden Terror der Hamas – und ebenso wenig rechtfertigt der 7. Oktober die völkerrechtlichen Verbrechen der israelischen Armee in Gaza oder im Libanon“, heißt es.
Über „Gegenbeschluss“ wurde nicht abgestimmt
Nach WELT-Informationen äußerten zahlreiche Funktionäre bei einer Videokonferenz zwischen dem Bundesvorstand und den Landesvorsitzenden am Mittwochabend zudem deutliche Kritik an dem genehmigten Antrag und weiteren Vorkommnissen auf dem Bundeskongress des Jugendverbandes am vergangenen Wochenende.
Ein Vorschlag, der auf einem „Gegenbeschluss“ des Parteivorstandes beruhte, wurde jedoch nicht angenommen. Vorstandsmitglied Sabine Berninger, von 2004 bis 2019 Landtagsabgeordnete in Thüringen, wandte sich mit einem Beschlussvorschlag an ihre Vorstandskollegen. Allerdings wünschte sich der Vorstand, dass es nur eine kritische Stellungnahme des Parteichefs geben würde. Die Mehrheit der Teilnehmer stimmte dem zu.
Berningers Beschlussvorschlag liegt WELT vor. Darin heißt es, dass die Entscheidung der Linken Jugend „den Grundwerten unserer Partei widerspricht: Humanismus, Antifaschismus, Solidarität und historische Verantwortung“. Die Entscheidung zeige „einen Mangel an Geschichte, einen Mangel an Wissen über den Holocaust, die Entstehungsgeschichte Israels und die Bedeutung des israelischen Staates für Juden weltweit – sowie einen Mangel an Sensibilität gegenüber vom Islamismus betroffenen Menschen.“
Lesen Sie hier Berningers Resolutionsentwurf.
Weiter heißt es in Berningers Vorschlag: „Die Linkspartei unterstützt – trotz aller notwendigen Kritik an der israelischen Regierung – die Dämonisierung des israelischen Staates nicht. Die Verteidigung des Existenzrechts Israels ist eine der Lehren aus der deutschen Geschichte und der aktuellen Situation und Bedrohung, in der sich Juden befinden. Darüber hinaus widerspricht es unseren Grundsätzen, Terrororganisationen wie die Hamas in ‚revolutionäre Bewegungen‘ umzudeuten und zu verklären.“
Zahlreiche Beamte kritisierten in der Sitzung den Inhalt des Beschlusses: Er sei katastrophal begründet und nach außen schädlich. Mehrere Teilnehmer bezeichneten die Entscheidung als antisemitisch oder mit Antisemitismus vereinbar. Es bedarf einer Aufarbeitung, politischer Bildungsarbeit und Bewusstseinsstrukturen. Antiisraelische Beamte hielten sich weitgehend zurück.
Diskutiert wurden auch die zahlreichen Neuzugänge zur Partei und zum Jugendverband seit letztem Jahr: Das habe auch Probleme mit sich gebracht, da müsse man genau hinsehen.
Die Parteivorsitzenden Schwerdtner und van Aken erklärten am Donnerstagnachmittag: „Eine einseitige Sichtweise auf Israel und Palästina nützt niemandem in der Region. Gerade bei diesem Thema müssen wir differenziert bleiben, wo andere abkürzen.“ Im Parteivorstand herrschte „sehr weitgehende Einigkeit“, dass der Antrag der Linken Jugend „inhaltlich nicht mit den Positionen der Linken vereinbar“ sei. In der gemeinsamen Erklärung heißt es weiter: „Kritik an der aktuellen israelischen Regierungspolitik ist absolut notwendig. Sie darf jedoch niemals den Schutz jüdischen Lebens in Frage stellen oder die Existenz Israels delegitimieren.“ Die Stellungnahme stuft die Entscheidung nicht als antisemitisch ein.
Drohungen von Feinden Israels gegen Delegierte
Der Linke-Jugend-Bundeskongress stimmte dem Vorschlag des Berliner Landesverbandes am vergangenen Wochenende mit fast 70 Prozent zu. Darin heißt es, dass die „Befreiung Palästinas“ „als Teil einer umfassenderen demokratischen und sozialistischen Revolution betrachtet werden muss, die Imperialismus und Kapitalismus aus der Region vertreibt“. Hamas und Antisemitismus werden nicht erwähnt.
WELT berichtete am Dienstag auch über eine Nachricht der Thüringer Linken-Jugend-Delegation, die während des Parteitags an Parteifreunde verschickt wurde. Sie seien „offenem Hass“ anderer Vereinsmitglieder ausgesetzt gewesen. Die Delegation erhielt eine Nachricht, in der es hieß: „Lasst Thüringen nicht schlafen, wir wissen, wo ihre Zimmer sind.“
Am Mittwoch hatten Linkspartei und Linke Jugend in Sachsen die Vorgänge in den eigenen Reihen scharf kritisiert. „Das Verhalten einiger Delegierter, die Brüche mit dem langjährigen Konsens über den Umgang miteinander und insbesondere die Entscheidung schockieren uns“, sagten die sächsischen Landesparteivorsitzenden Anja Eichhorn und Marco Böhme. „Wir sind mit dem Inhalt überhaupt nicht einverstanden.“ Israel sei ein „historisch notwendiger Schutzraum für Juden“.
Die Linke Jugend Sachsen teilte mit, dass es bei dem Kongress darum gehe, „bestehende Gegenstimmen aus dem Verein zu verdrängen“ mit „autoritärem Verhalten“. „Eliminatorischer Antizionismus“ sollte in der linken Jugend keinen Platz haben. „Israel ist eine Notwendigkeit der Shoah.“
Am Mittwoch erreichte den Parteivorstand zudem ein Schreiben der Bundesarbeitsgemeinschaft Schalom, die sich derzeit in Gründung befindet und gegen Antisemitismus vorgehen will. „Die Ereignisse beim Bundesjugendkongress der Linken am vergangenen Wochenende sind kein Einzelfall mehr und keine Überraschung“, heißt es. „Wir erwarten von Ihnen, dass Sie sich inhaltlich klar von dieser Entscheidung distanzieren und alle, die gegen Antisemitismus, islamistischen Terror und jede Form von Gewalt Stellung beziehen, unmissverständlich unterstützen.“
Politischer Redakteur Frederik Schindler berichtet für WELT über die AfD, Islamismus, Antisemitismus und Justizthemen. Seine Kolumne „Counter Speech“ erscheint alle zwei Wochen.
