Angriffe, Beleidigungen, Gewaltandrohungen: Eine Umfrage des Jüdischen Studentenwerks zeigt, wie weit der Hass auf Juden in den studentischen Alltag eindringt. Das Problem liegt aber nicht nur bei den Kommilitonen, auch bei den Dozenten gibt es antisemitische Ansichten.
Zwei Jahre nach dem Massaker vom 7. Oktober ziehen jüdische Studierende in Deutschland Bilanz und stellen Forderungen an die hiesigen Universitäten und die Hochschulpolitik. Am Donnerstag stellte das Jüdische Studentenwerk (JSUD) einen Maßnahmenkatalog und eine qualitative Studie zum Thema Antisemitismus an Hochschulen vor.
Unter anderem will die JSUD die sogenannte IHRA-Antisemitismus-Definition, die im Gegensatz zu anderen Definitionen die Dämonisierung Israels eindeutig als Antisemitismus bezeichnet, in die Hochschulverfassungen aufnehmen. Auf dieser Grundlage soll verhindert werden, dass antisemitische Studierendengruppen Flächen und Aktivitäten auf dem Campus vergeben. Das Jüdische Studentenwerk fordert außerdem die Ernennung von durch die Wissenschaftsministerkonferenz zertifizierten und nach der IHRA-Definition geschulten Antisemitismusbeauftragten an allen Universitäten. Bund und Länder sollten die Möglichkeit haben, Universitäten zu sanktionieren, die jüdische Studierende nicht ausreichend schützen.
Seit dem 7. Oktober 2023 kam es an Dutzenden Universitäten im ganzen Land immer wieder zu antisemitischen Schmierereien, Sachbeschädigungen und sogar gewalttätigen Protesten mit Äxten und Knüppeln. Der Terror der Hamas wurde verherrlicht oder zu einer „Intifada“, also einem bewaffneten Aufstand gegen Juden, aufgerufen. Es kam auch zu antisemitischer Gewalt, etwa gegen den Berliner Studenten Lahav Shapira.
Eine Umfrage des Jüdischen Studentenwerks zeigt nun, wie weit antijüdische Vorurteile in den studentischen Alltag eingedrungen sind. Laut JSUD-Präsident Ron Dekel sind Vorfälle an mehr als 50 Universitäten bekannt geworden: „Das ist kein Großstadtproblem, und es ist schon gar kein Berlin-Problem. Es ist ein deutschlandweites Problem.“ Antisemitismus, sagt Dekel, „passiert nicht nur dort, wo jüdisches Leben sichtbar ist. Er zeigt sich dort, wo aus Spaß Hitlergrüße gezeigt werden, wo Hakenkreuze oder Hamas-Dreiecke in Toilettenkabinen geschmiert werden.“ Die Terrororganisation markiert feindliche Ziele mit roten Dreiecken, antisemitische Aktivisten nutzen sie zur Einschüchterung.
An der JSUD-Umfrage beteiligten sich 78 Personen von 27 Hochschulen in 15 Bundesländern. 41 gaben an, jüdisch zu sein. Laut Dekel habe man sich bewusst für die Einbeziehung „antisemitismuskritischer“ Studierender entschieden, um zu zeigen, dass Antisemitismus „uns alle als Gesellschaft“ gefährdet. „Es bedroht alle Menschen, die sich extremen Ideen widersetzen, die sich nicht einer vermeintlichen hegemonialen Meinung an Universitäten anpassen wollen – einer Meinung, die tatsächlich von einer lautstarken illiberalen Minderheit vertreten wird.“
Die Befragten berichten unter anderem von „Graffiti in Seminarräumen wie ‚Juden -> Gas‘“ oder erwähnen „Hakenkreuze in der Universität“. Die Aussagen sind anonymisiert, Rückschlüsse auf die Universitäten wurden gelöscht, Nazi-Vokabular kommt häufiger vor. Beispielsweise in einer ausführlichen Beschreibung unter der Überschrift „Beleidigungen und Verleumdungen gegen als jüdisch wahrgenommene Personen, die teilweise bei Demonstrationen geäußert wurden.“
„Ich selbst wurde von einem jungen Mann als ‚Jude‘ erkannt und belästigt“, heißt es darin. „Er rief Dinge wie ‚Ich habe nichts als Verachtung für euch Juden‘, ‚Wir haben Teppiche aus euren Haaren gemacht‘ und andere antisemitische Parolen.“
Auch im Universitätsalltag erlebten die Befragten Angriffe, Beleidigungen, Einschüchterungen bis hin zur Verdrängung. Eine Geschichte beginnt in einer Bibliothek, wo zwei Männer den Davidstern der Figur bemerkten. „Als ich die Bibliothek verließ, folgten sie mir und rannten hinter mir her, während sie antisemitische Parolen (auf Arabisch) riefen.“ In einem anderen Bericht heißt es: „Am wirkungsvollsten waren für mich anonyme E-Mails mit Verleumdungen und Drohungen, die offensichtlich bis zu meinem Auszug aus meinem Wohnheim kamen.“
Ein weiterer Artikel zeigt, wie diese Gesamtsituation zu einem allgemeinen Gefühl der Unsicherheit führen kann.
„Das Deprimierendste, was ich persönlich erlebt habe, war, als ich einer kleinen Gruppe meiner Kommilitonen erzählte, dass ich Jude bin“, heißt es darin. Es wurde sofort gefragt, ob die betreffende Person ein Zionist sei und einen „Völkermord in Gaza“ befürworte. „Ich musste mich plötzlich etwa eine Stunde lang vor dem gesamten Staat rechtfertigen. Diese Interaktion hat mich definitiv eingeschüchtert.“ Später hieß es, die betreffende Person sei Jude. „Ich trage die Magen-David-Halskette und die Jarmulke nicht, weil ich nicht möchte, dass mich möglicherweise jemand in der Öffentlichkeit angreift. Aber weil ich aufgrund dieser Nacherzählungen nicht mehr weiß, wer mich als Jüdin kennt, ist mein ursprüngliches Sicherheitsgefühl an der Universität verloren.“
„Universitäten haben keine klaren Aktionspläne“
Das grundlegende Strukturproblem hinter diesen Erfahrungen sieht die JSUD in der weitverbreiteten Unkenntnis an den Universitäten darüber, wie sich moderner Antisemitismus äußert – konkret in Bezug auf Israel. Darüber hinaus attestieren die Organisationen vielen Universitätsleitungen die Unfähigkeit bzw. den Unwillen, klar Stellung gegen „pro-palästinensisch“ agierende Antisemiten auf dem Campus zu beziehen. Es gibt auch Zitate der Befragten.
„Häufig“, sagte ein Interviewpartner, „werden antisemitische Vorfälle und Handlungen als rein pro-palästinensisch abgetan oder als ‚berechtigte Kritik‘ verstanden“ und bleiben ohne Konsequenzen. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Kompetenz der für Antidiskriminierung zuständigen Mitarbeiter der Universität, etwa Antisemitismusbeauftragte oder Antidiskriminierungsstellen, von den Befragten im Durchschnitt als schlecht eingeschätzt wird.
Problematisch seien zudem Hochschullehrer, die selbst antisemitische Überzeugungen hegten oder nicht in der Lage seien, Antisemitismus zu erkennen. Laut Ron Dekel fällt es Universitäten oft sehr schwer, bei antisemitischen Aktionen und Vorfällen Grenzen zu ziehen. Die Meinungsfreiheit habe „Grenzen, nämlich dort, wo Menschenfeindlichkeit und Antisemitismus beginnen“, sagt Dekel. „Seit dem 7. Oktober wird uns immer wieder schmerzlich vor Augen geführt, dass Universitäten keine klaren Handlungspläne haben, dass sie nicht wissen, was sie tun sollen, dass sie überfordert sind, wenn etwas passiert.“ Es müsse „klar geregelt werden, wie sich Universitäten verhalten müssen, wenn täglich Hörsäle besetzt, Möbel zerstört, zur Intifada, also der Ermordung von Juden, aufgerufen werden oder auch Studierende angegriffen werden.“
Dekel betont, dass das Klima an Universitäten, die durch die Anerkennung der IHRA-Definition oder die Verurteilung der Israel-Boykottbewegungen klar Stellung beziehen, deutlich besser ist als an solchen, an denen solche Bekenntnisse fehlen, unklar bleiben oder still bleiben. Zu oft, sagt Dekel, habe die Universitätsleitung versucht, mit „pro-palästinensischen“ Akteuren „zu reden, zu kooperieren und zu verhandeln“. Und das ist natürlich eine Beschwichtigungspolitik, die nicht greift.“
Dekel fordert daher neben den oben genannten Vorschlägen und weiteren Forderungen nach Gesetzen gegen „pro-palästinensische“ Protestcamps oder mehr Forschung zum islamistischen Antisemitismus: „Hochschulen sollten sich nicht hinter pauschalen Aussagen der Landesregierungen oder der Hochschulrektorenkonferenz verstecken, sondern eigenständiges, entschiedenes Handeln der Hochschulen selbst, denn das macht einen gravierenden Unterschied.“
Jan Alexander Casper Reportagen für WELT über die Grünen und gesellschaftspolitische Themen.