Nach dem tödlichen Angriff auf ein Rüstungsunternehmen hat die Türkei kurdische Ziele in Syrien und im Irak angegriffen. Die Eskalation kommt zu einem bemerkenswerten Zeitpunkt: Erdogan ist kürzlich auf die Kurden zugegangen – auch aus eigenem Interesse.
Als sich die Türen des gelben Taxis öffnen, steigen ein Mann und eine Frau aus – und eröffnen mit Sturmgewehren das Feuer auf Passanten. Videos in sozialen Netzwerken zeigen, wie kaltblütig die Angreifer in Ankara vorgingen. Bei dem Angriff auf das Gelände des staatlichen Luft- und Raumfahrtunternehmens Tusas am Mittwoch starben fünf Menschen, 22 weitere wurden verletzt. Beide Attentäter wurden getötet. Noch hat niemand offiziell die Verantwortung für den Angriff übernommen. Es dauerte jedoch nicht lange, bis sowohl die türkische Regierung als auch zahlreiche Experten die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) dafür verantwortlich machten.
Am Donnerstag gab der türkische Innenminister Ali Yerlikaya bekannt, dass beide Angreifer als Mitglieder der PKK identifiziert wurden. Auch das gewählte Ziel, ein für die Türkei strategisch wichtiger Industriestandort, deutet Experten zufolge auf einen Angriff der PKK hin. Der Rüstungskonzern Tusas produziert unter anderem Kampfdrohnen und Satelliten. Er entwickelte auch den ersten türkischen Kampfjet, den TAI Kaan.
Nur wenige Stunden nach dem Angriff revanchierte sich die Türkei: Wie das Verteidigungsministerium mitteilte, wurde eine „Luftoperation gegen Terrorziele im Nordirak und in Syrien durchgeführt“. 32 Ziele wurden zerstört. Es ist kein Zufall, dass die türkische Luftwaffe außerhalb der Landesgrenzen zurückschlägt: Das Kandil-Gebirge im Norden Iraks ist ein Rückzugsgebiet der PKK. Und in Syrien dürften sich die Angriffe gegen die kurdische YPG-Miliz gerichtet haben, die Ankara als Ableger der Partei ansieht.
Der Händedruck des Ultranationalisten
Seit vierzig Jahren schwelt der Konflikt zwischen der Türkei und der PKK, die für politische Autonomie und einen eigenen kurdischen Staat kämpft. Doch der Anschlag in Ankara kommt zu einem bemerkenswerten Zeitpunkt: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine Partner starteten kürzlich eine regelrechte Charmeoffensive gegen die Kurden.
Angefangen hat es mit Devlet Bahceli, dem Parteichef der rechtsextremen MHP und engen Verbündeten Erdogans: Anfang Oktober schüttelte er Abgeordneten der prokurdischen Partei DEM im Parlament die Hand und forderte sie dazu auf, „ein“ zu werden. Partei der Türkei“. Am Dienstag – einen Tag vor dem Terroranschlag in Ankara – ging Bahceli noch einen Schritt weiter und versprach die Freilassung des seit 25 Jahren inhaftierten PKK-Gründers Abdullah Öcalan. Er schlug vor, die Auflösung seiner Miliz vor dem Parlament anzukündigen. „Wenn die Isolation des Terroristenführers aufgehoben wird, sollte er kommen und sprechen“, sagte Bahceli.
Die Aussage war überraschend – zumal Devlet Bahceli als einer der größten Gegner der Kurden und ihrer politischen Ambitionen gilt. In der Vergangenheit hat er immer wieder Giftpfeile gegen die Partei DEM abgefeuert, die er als Verbündete der PKK sieht. Einige Beobachter sprachen von einem politischen Erdbeben. Doch auch Präsident Erdogan begrüßte die Vorstöße seines Verbündeten. Am Mittwoch sprach er von einer „historischen Chance“, Frieden in der Türkei herbeizuführen.
„Es sieht tatsächlich so aus, als ob Erdogan seinen Kurs in der Kurdenfrage ändert“, sagt Aret Demirci, Leiter des Istanbuler Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung, in einem Interview. Er ist überzeugt, dass Bahceli sein Vorgehen mit dem Präsidenten abgestimmt hat. „Wie schon oft in der Vergangenheit testet Bahceli für Erdogan, wie solche Ideen in der Bevölkerung ankommen.“
„Die PKK ist kein einheitlicher Block“
Demirci zufolge verfolge der türkische Präsident vor allem innenpolitische Ziele: „Ich sehe diesen Ansatz als Teil von Erdogans Wunsch nach einer neuen Verfassung“, sagt er. „Dies könnte es ihm ermöglichen, für eine weitere Amtszeit oder sogar auf Lebenszeit Präsident zu bleiben.“ Für diesen Plan braucht er die Stimmen der pro-kurdischen DEM-Partei. Es bleibt aber abzuwarten, ob sich PKK-Führer Öcalan dafür instrumentalisieren lässt.
Unklar ist jedenfalls, wie viel Einfluss Öcalan noch auf die Organisation hat. „Die PKK ist kein einheitlicher Block“, sagt Demirci. „Gerade für jüngere Mitglieder, die keinen emotionalen Bezug zu Öcalan haben, wäre es ein Verrat an der kurdischen Sache, die Miliz aufzulösen und die Waffen niederzulegen, ohne dass vorher ein kurdischer Staat geschaffen würde.“ Der Anschlag in Ankara könnte ein Versuch radikaler PKK-Anhänger sein, eine Annäherung an den türkischen Staat im Keim zu ersticken. Selbst Vertreter der DEM-Partei sprachen nach dem Anschlag von einer Provokation.
Gleichzeitig hat Demirci Zweifel, ob die türkische Bevölkerung von einem erneuten Annäherungsversuch überzeugt werden kann. Bereits 2015 waren mehrjährige Friedensverhandlungen gescheitert, was zu einer der blutigsten Phasen des Konflikts führte. „Heute sind nicht nur nationalistische, sondern auch liberale Kreise vorsichtiger mit der Öffnung.“
Auch der PKK-Führer Öcalan dürfte nun über die ganze Aufregung informiert sein. Medienberichten zufolge besuchte ihn seine Familie am Mittwoch auf der Gefängnisinsel Imrali – zuvor hatte er rund vier Jahre lang weder mit seiner Familie noch mit seinen Anwälten sprechen dürfen.