75 Jahre Fruchthof: Mit dem Alter droht der „Bauch Berlins“ zu schrumpfen

75 Jahre Fruchthof: Mit dem Alter droht der „Bauch Berlins“ zu schrumpfen

75 Jahre Fruchthof

Mit zunehmendem Alter droht der „Bauch Berlins“ zu schrumpfen



75 Jahre Fruchthof: Mit dem Alter droht der „Bauch Berlins“ zu schrumpfen
Video: rbb24 Abendnachrichten | 06.09.2024 | Jonas Pospesch | Bild: rbb|24 / Schneider

Der Obsthof an der Beusselstraße wird auch „Bauch Berlins“ genannt, 220.000 Tonnen Obst und Gemüse werden dort jährlich gehandelt. 75 Jahre ist er mittlerweile alt – und könnte weiter an Bedeutung verlieren, weil sich die Einkaufsgewohnheiten ändern.

Vier Uhr morgens. Während die meisten Berliner noch schlafen, herrscht im Fruchthof seit 75 Jahren reges Treiben.

Gabelstapler mit Paletten sausen durch die Gänge. Mittendrin steht Bernd Paupitz. Seit 46 Jahren kommt der Wochenmarkthändler hierher, um seine Waren zu kaufen. „Guten Morgen, Tamer! Wie gehts – gut?“, sagt er zum Verkäufer. „Was haben wir denn auf der Palette? Romanasalat. Einen Romanasalat. Was kostet der heute?“, fragt er. „Zwölf, Herr Paupitz“, sagt der Verkäufer. „Na, den Preis kann man ja noch zahlen“, sagt Paupitz und schlägt an die Theke.

Wenn wir hier von Romanasalat sprechen, reden wir übrigens von einer ganzen Kiste. Wir sind schließlich auf dem Großmarkt. Weiter geht es zum nächsten Großhändler. Bernd Paupitz probiert ein paar Trauben. Er hat acht, neun Großhändler, die er schon lange kennt und denen er vertraut. Diese Beziehungen seien ihm sehr wichtig – und das seit 46 Jahren, sagt er.

Es hat sich aber auch einiges geändert, beispielsweise die technische Ausstattung des Großmarktes und das Sortiment. „Brokkoli kam Anfang der 80er Jahre als Gemüseartikel. Mein Vater hat damals immer zu mir gesagt, wir brauchen keinen Brokkoli, wir haben im Winter Blumenkohl oder Rosenkohl. Heute ist er ein Standardartikel“, so Paupitz.

Auf der „Autobahn“ in der Halle herrscht ein so reger Verkehr der Gabelstapler, dass man sich manchmal Zebrastreifen wünscht. | Bild: dpa

Start in Mariendorf

Auch für den Obsthof selbst hat sich viel verändert. Die Betriebsgenossenschaft wurde 1949 als Notlösung zur Versorgung der West-Berliner Bevölkerung in der Nachkriegszeit gegründet – zunächst von Mariendorf aus.

Als der heutige Standort an der Beusselstraße 1965 eröffnet wurde, führten ihn Herren mit Hornbrille und Hut. Sie rauchten Zigarren, waren stolz auf ihre Bäuche und konnten noch ehrlich eine Ladung Bananen bestaunen. Berlin war ummauert, die alten Markthallen lagen im Ostteil der Stadt. Also schuf der Senat die „Keimzelle zur Ernährung der West-Berliner“, wie sie der Regierende Bürgermeister Willy Brandt nannte. Früher waren im Fruchthof 300 Betriebe ansässig, heute sind es 100, Tendenz sinkend. Noch gehört das Gelände dem Staat. Doch das Geschäft hat sich verändert.

Riesig, weitgehend automatisiert und völlig autark von externen Handelsstandorten wie dem Fruchthof: eines der modernen Logistikzentren der großen Einzelhandelsketten, hier von Edeka in Westfalen. | Bild: Perspektive

Die großen Supermarktketten brauchen den Obstbauernhof nicht mehr

Früher kauften hier viele Berliner Supermärkte ihr Obst und Gemüse. Heutzutage setzen die großen Ketten wie Rewe, Edeka und andere auf eigene Logistikzentren und der Großmarkt bleibt weitgehend außen vor. Die Beusselstraße konzentriert sich mittlerweile stärker auf die Belieferung von Großkantinen, aber auch gehobener Gastronomie, Hotels und Feinkostläden. Die Nische gibt Anlass zur Hoffnung: Spitzengastronomie und Facheinzelhändler, die sich von der Masse abheben wollen, finden im Fruchthof eine deutlich größere Sortenvielfalt. Dafür müssen ihre Kunden dann aber auch bereit sein, zu zahlen.

Innerhalb von drei Tagen können die Verkäufer auf dem Obsthof zu jeder Jahreszeit jedes gewünschte Obst und Gemüse bekommen, so ihr Versprechen – auch Stinkeobst oder Zuckermelonen. Die riesigen Mengen, die die vier großen Supermarktketten verkaufen, kann das allerdings nicht mehr ersetzen. Die Großmärkte in Köln und Düsseldorf mussten bereits schließen.

Sanierungsbedürftige Gebäude, insolvente Händler

Auch im Berliner Fruchthof mussten in den vergangenen Jahren Traditionsbetriebe schließen, nicht zuletzt aufgrund von Verlusten während der Pandemie – Ende 2023 meldete etwa das Familienunternehmen „Früchte Franz“ Insolvenz an. Die Hallen des Fruchthofs sind in die Jahre gekommen, zwischen den vielen Kisten und Paletten ist das Alter des Gebäudes zu erkennen. Die Heizungsanlage ist fast 60 Jahre alt, marode und frisst viel Geld, weil die Bausubstanz die Wärme aufgrund fehlender Isolierung nicht speichern kann. Auch der Brandschutz ist nicht auf dem neuesten Stand der technischen Möglichkeiten, die Statik der Dächer etwa macht eine Sprinkleranlage unmöglich. Bei einem Großbrand wären sie vermutlich nicht mehr zu retten.

Es wird langsam dunkel, als Bernd Paupitz seine letzten Einkäufe erledigt. Um halb sechs ist sein Besuch beendet. Der Großhändler bringt die Ware mit einem Gabelstapler zu seinem LKW. Er schließt die Ladeklappe und fährt los.

Geschäftiges Treiben im Dunkeln: Während die meisten Berliner schlafen, wechseln hier palettenweise Obst und Gemüse den Besitzer. | Bild: rbb|24 / Schneider

„Vielleicht versuchen wir das mal“

René Scheike ist etwas später dran. Der Gastronom betreibt das Restaurant Straßenbahndepot am Heiligensee in Reinickendorf. Inspiration für neue Gerichte sucht er auf dem Großmarkt. Schnell findet er eine Pflanze, die er nicht kennt. „Man steht plötzlich vor einem Produkt, das völlig neu ist, vermutlich eine Tomate. Das ist schon interessant, es duftet schon beim Riechen sehr gut. Auch die Konsistenz ist sehr schön. Aber jetzt will ich sagen, das probieren wir mal“, sagt er.

Diese neuen Erkenntnisse sind nur einer der Gründe, warum René Scheike lieber zum Großmarkt geht, als sich seine Vorräte von den großen „Cash and Carry“-Anbietern wie Metro liefern zu lassen. Sie machen dem Fruchthof zudem Konkurrenz. Über 85 Prozent der deutschen Verbraucher kaufen ihr Obst und Gemüse ohnehin mittlerweile im Supermarkt, die Hälfte davon beim Discounter. Auch der Fruchthof kämpft mit einem Mangel an Arbeitskräften. In Zukunft, so die Betreibergesellschaft, werden Technologien wie künstliche Intelligenz und Roboter noch wichtiger sein, um die Mitarbeiter zu unterstützen.

Für René Scheike haben sich die Gründe, warum er so oft auf den Obsthof kommt, nicht geändert: Er sucht das Besondere – und möchte seine Ware vor dem Kauf anfassen und probieren. Dafür steht er gern früh auf: „Der Großmarkt kann wie ein Kaffee sein, ein guter Kaffee“, sagt Scheike. Und das helfe auch morgens.

Mit Material von Jonas Pospesch



Sendung: rbb24 Abendshow, 15.09.2024, 19:30


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